
Dass die beiden Entfernungen aber in der Tat nicht unabhängig voneinander sind, hat der Physik-Titan Albert Einstein in seinen beiden Relativitätstheorien (spezielle und allgemeine) eindrücklich dargelegt. Noch heute beißen sich Generationen von Wissenschaftlern die Zähne daran aus, die allgemeine Relativitätstheorie irgendwie aus den Angeln zu heben. Sie bleibt aber (bisher) stabil wie die Tresortür von Fort Knox (und die wiegt, sage und schreibe, 20 Tonnen!).
Im Kern lernen wir aus den Theorien, dass es zur Informationsübertragung eine höchste (Licht-) Geschwindigkeit gibt und dass der Raum am Ende „gekrümmt“ wird durch die Materie und Energie darin, und die Krümmung selber die Gravitation bewirkt. Und wir lernen, das Universum als Ganzes zu sehen, alles hängt mit allem zusammen. Was da alles passieren kann, ist eindrucksvoll in dem düsteren Science-Fiction-Film „Interstellar“ (Regie: Christopher Nolan) zu sehen. Danach ist der Betrachter schnell geneigt, an die heute sehr populären Paralleluniversen oder -welten zu denken, in die manche abzudriften gewillt sind. Die davon Betroffenen sollte man daher eher als „Paralleldenker“ denn als Querdenker bezeichnen. Hier scheint es tatsächlich mehr der geistige Abstand zu sein, mit dem diese Universen vermessen werden.
Wir können uns der Thematik aber auch anders nähern, wie Facebook-Gründer Mark Elliot Zuckerberg kürzlich bewiesen hat. Die aktuelle Idee des Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens „Meta Platforms“ ist ebenfalls eine Art Parallelwelt, diesmal eine digitale, „Metaverse“ (oder Metaversum) genannt. Diese soll aber ganz eng verzahnt sein mit der realen Welt und irgendwo darüber („meta“) angesiedelt sein. Man soll sich dann nahtlos zwischen den Welten hin- und herbewegen können. Das Konstrukt stellt letztendlich eine Steigerung der virtuellen Realität (VR) dar, mit viel mehr Möglichkeiten.
Beispielsweise reist man dann als Avatar durch die ganze Welt und kann sich dort unterwegs mit Freunden treffen, Dates wahrnehmen oder sogar richtig (Krypto-)Geld verdienen. Die Avatare muss man sich tatsächlich als künstliche, selbst geschaffene Personen oder einfach grafische Figuren vorstellen. In Computerspielen ist so etwas ja schon gang und gäbe.
Die Idee mit den Computer-Avataren und dem Metaversum ist schon deutlich älter. In seinem Science-Fiction-Roman „Snow Crash“ von 1992 benutzte und prägte damit der amerikanische Schriftsteller Neal Stephenson diese Begriffe bereits vor 30 Jahren. In dieser tiefdunklen Endzeitprosa wird eine Welt präsentiert, in der sich der Staat vollständig aus dem öffentlichen Leben zurückzieht und alles, auch Polizei und Justiz, ja sogar Regierungen und damit Staaten, privatisiert ist. Aus dieser furchtbaren „anarchokapitalistischen Dystopie“ (was für ein kreativer Ausdruck!) kann man nur als Avatar in ein Metaversum fliehen. Also dann mal los!
Das Wort „Avatar“ stammt übrigens vom altindischen Sanskrit (Avatara) ab und bedeutet so viel wie Abstieg. Damit ist im Hinduismus das Herabsteigen einer Gottheit in irdische Gefilde gemeint, hier konkret die Menschwerdung des Gottes Vishnu.
Abgestiegen ist aktuell aber kein Gott, sondern lediglich der Aktienkurs von Hoheit Zuckerbergs Konzern Meta. Denn der Börsenwert sank innerhalb weniger Stunden um nicht weniger als 67 Milliarden US-Dollar, das entspricht 25 Prozent des Marktwertes, seit Jahresbeginn sind es sogar über 70 Prozent. Ein Grund ist das Metaversum, das jede Menge Entwicklungskosten für neue virtuelle Welten verschlingt, der Umsatz ist aber vergleichsweise gering. Zudem arbeitet Zuckerberg an der Entwicklung einer neuen verbraucherfreundlichen VR-Brille. Dass das Projekt irgendwann doch zum Erfolg werden könnte, ähnelt einer Wette mit ungewissem Ausgang. Zuckerberg agiert nach der Poker-Regel „All-in“. Er hat ja noch einiges in der Hinterhand. Zudem kann er dann doch auch ins Metaversum fliehen, um dort die Welt zu retten ...
Zudem muss Zuck (sein Name bei Instagram) zu denken geben, dass die Chinesen in Form der Kurzvideo-App TikTok von der Firma ByteDance auch Meta angreifen, in dem Falle als Konkurrenz für Facebook und Instagram. Zudem geht es langsam aber sicher den „Drittanbietercookies“ an den Kragen (des gerade zum zehnten Mal beworbenen Hemdes ...). Die lästigen „digitalen Stalker“, die einem ständig die gleiche Werbung aufzwingen (man hat ja vorher brav alle Cookies zugelassen), werden ab 2023 von den großen Browsern (ins Metaversum?) verbannt. Damit will man die Nutzer schützen. Es gibt da eben auch so eine Art „Privacy Paradox“: Ich möchte zwar den besten Schutz für meine Daten, aber nicht immer irgendwelche Cookie-Häkchen setzen müssen.
Damit entfällt für die Werbeindustrie ein großer Geschäftsbereich: das so beliebte Targeting und Tracking, die zielgruppengenaue Platzierung von Anzeigen und die Spur der besuchten Seiten. Bei Apple sind für iPhone und iPad die Gürtel da schon enger geschnallt worden. Auch da verlieren Facebook und Instagram rund zehn Milliarden US-Dollar nur in diesem Jahr. Mal sehen, wie das nächstes Jahr dann auf breiter Ebene weitergeht. Google scheint jedenfalls mit im Boot zu sein. Aber keine Bange, im Hintergrund wird eifrig an Alternativlösungen gearbeitet ...
Abstand in der digitalen vernetzten Welt hat sowieso eine andere Wertigkeit als in der realen, physikalischen „Umwelt“. Dort tritt aber auch eine erstaunliche Eigenschaft der Vernetzung auf, was gemeinhin als „Kleine-Welt-Phänomen“ (small-world experiment) bezeichnet wird. Dieser Begriff aus der Sozialpsychologie wurde 1967 von dem amerikanischen Psychologen Stanley Milgram eingeführt (bekannt durch das berühmte Milgram-Experiment zur Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten). Dahinter steckt die erstaunliche Erkenntnis, dass alle Menschen auf dem Globus mit allen anderen über sehr kurze Ketten von Bekanntschaften verlinkt sind. Er fand in einem Experiment eine durchschnittliche Zahl von 5,5 Zwischenpersonen heraus, was aufgerundet dann als „Six Degrees of Separation“ bezeichnet wurde. Auch diese Betrachtung war zu dem Zeitpunkt nicht neu, denn schon 1929 hatte der ungarische Schriftsteller Frigyes Karinthy in seiner Kurzgeschichte „Chain-Links“ dazu philosophiert (er kam auf fünf Personen). Im Jahre 2008 haben zwei Microsoft-Wissenschaftler die These dann anhand einer enormen Menge an Kommunikationsdaten weitgehend bestätigt. Verblüffend ist dabei immer wieder, dass im Vergleich zur Gesamtzahl aller möglichen Verbindungen (jeder zu jedem) die tatsächliche Verbindungsanzahl verschwindend gering ist. Jeder Leser und jede Leserin dieser Kolumne ist jedoch auf einem kurzen Wege bekannt mit jedem Eskimo in Grönland!
Eine Ausnahme gibt es aber auf jeden Fall, denn die Einwohner der Andamanen-Insel North Sentinel Island im Indischen Ozean sind seit 1996 streng isoliert, ja man kennt nicht einmal ihre Sprache. Jede noch so kleine Infektion aus der „zivilisierten“ Welt würde ihr Ende bedeuten. Sie sind auch recht kriegerisch eingestellt und wissen sich wohl mit Pfeil und Bogen zu wehren.
Die Sache mit Abstand und Infektionen ist uns dank Corona ja hinlänglich bekannt. An die ständige Ermahnung, 1,5 oder 2 Meter Abstand zu halten, haben wir uns so weit gewöhnt, dass wir es eigentlich schon wieder vergessen haben oder einfach ignorieren. Die ständigen Aufforderungen nutzen sich einfach ab. So oder ähnlich muss man sich das auch im Straßenverkehr beim Überholen von Radfahrern vorstellen. Innerorts ist ein Mindestabstand von 1,5 Metern gefordert, außerorts sogar von 2 Metern. Damit hält man beim Überholen auf jeden Fall den Corona-Abstand ein. Allerdings sieht die Praxis auf der Straße gänzlich anders aus.
Man halte sich insbesondere vor Augen, dass der Abstand gemessen wird vom äußersten Ende des rechten Rückspiegels zum ebenfalls äußersten linken Ende des Lenkers. Das gilt auch für Radfahrer auf dem Schutzstreifen, nicht aber für solche auf Radfahrwegen oder Radfahrstreifen, da dort rechtlich nicht überholt, sondern nur vorbeigefahren wird. Die Strafe für das Nichteinhalten des Mindestabstands ist mit 30 Euro (35 Euro bei Sachbeschädigung) recht moderat. Und wer hat überhaupt schon einmal erlebt, dass der tatsächliche Abstand kontrolliert wird?
Abstand hat zudem auch etwas mit seinem sprichwörtlichen Gegenteil, dem Anstand, zu tun. Das Wissen, dass es dabei tatsächlich recht genaue Vorgaben gibt, ist wahrscheinlich gar nicht einmal so weit verbreitet. Der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall definierte schon 1966 in seinem Werk „The Hidden Dimension“ vier Distanzzonen zwischen Menschen. Die öffentliche Zone beginnt ab 3,6 Meter (beispielsweise bei einem Vortrag), die soziale Zone liegt darunter bis 1,2 Meter (am Bahnsteig, gegenüber Fremden), unterhalb einer Armlänge Abstand wird es kritisch in der persönlichen Zone (bis 0,6 Meter), und dann wird es intim.
Natürlich sind diese Zahlen sehr wohl kulturabhängig und im Norden eher größer anzusetzen als im Süden. Zudem spielt die Bedeutung einer Person eine bedeutende Rolle. Einem Minister oder Vorstandsvorsitzenden wird man eher aus der Distanz begegnen wollen, ein Unterschreiten kann durchaus zu Missverständnissen führen. Überhaupt führt zu viel Nähe für viele Menschen zu Stress. Und hochdichtes Gedränge, wie gerade bei dem schrecklichen Unglück anlässlich einer Halloweenfeier in Seoul mit über 150 Todesopfern gesehen, stellt zudem eine große Gefahr dar.
Eine Unterschreitung des Sicherheitsabstandes („halber Tacho“) auf der Straße erzeugt nicht nur Stress, sondern stellt ebenfalls eine Gefahr dar, mit der möglichen Konsequenz eines (schweren) Unfalls. Eigentlich soll man sein Fahrzeug ja innerhalb der einsehbaren Strecke zum Stillstand bringen können. Und da fängt das Dilemma schon an. Wer weiß denn überhaupt, wie lang der Anhalteweg, also Reaktionsweg plus Bremsweg, genau ist? Und selbst, wenn man das für verschiedene Geschwindigkeiten und Fahrbahnverhältnisse wüsste, so müsste man auch die Länge der einsehbaren Strecke abschätzen können. Und Entfernungen abschätzen können Menschen nun einmal gar nicht gut, wie frühe Untersuchungen in Simulatoren bei General Motors ergeben haben. Geschwindigkeitsunterschiede sind dagegen recht gut festzustellen.
Die gängige Praxis auf der Straße zeigt, dass sich viele wenig Gedanken über diesen Umstand machen. Die „Drängler“ sind allerorten unterwegs und bewirken nach vorne Stress. Leider aber wird der Abstand nach hinten beim Fahrbahnwechsel nach rechts noch viel stiefmütterlicher behandelt. Ist der Überholte aus dem Blick, geht es flugs rechts rüber, Abstand egal. Eine stressige Unsitte, die anscheinend nicht auszumerzen ist.
Teilweise findet man im „Interversum“ tatsächlich auch Sinnhaftes. So steht (in leicht abgewandelter Form) dort geschrieben: „Manchmal nimmt man Abstand, um in Ruhe nachzudenken. Und manchmal nimmt man Abstand, weil man in Ruhe nachgedacht hat.“ Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
AUTOR
PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.