
Die wissenschaftliche Form der Wahrsagerei nennt man „Prognose“. Obwohl auch Horoskope, oder besser deren Ersteller, mit einem ebensolchen wissenschaftlichen Anspruch (Stichwort Astrologie) an den Start gehen, ist da doch noch ein (kleiner) qualitativer Unterschied festzustellen.
Die besten Prognosen stellen aber natürlich die Naturwissenschaften. So eröffnet ein physikalisches Gesetz nichts anderes als die Möglichkeit, mit großer Treffsicherheit in die Zukunft zu blicken. Lässt man einen Apfel fallen, so erwartet man, dass er der Gravitation gehorchend auch zu Fallobst wird. Beweisen kann man diese Gesetze übrigens nie. Sie gelten daher nur so lange, bis ein Problem damit in Form eines Gegenbeispiels auftritt. Von sich aus fliegende Äpfel würden die Wissenschaft daher in eine schwere Krise stürzen.
Während man bei den Naturgesetzen ständig prüft, ob sie noch gelten, sind Prophezeiungen davon nicht betroffen. Sie ändern sich ständig und haben demzufolge keinen großen Erinnerungswert. Sie können aber trotzdem großen Einfluss haben. Man denke nur an das Orakel von Delphi, was auch immer das gewesen sein mag. Denn die weissagende Priesterin dort, Pythia, prophezeite in „veränderten Bewusstseinszuständen“. Irgendwie kommt einem das heute doch auch in der Tagespolitik sehr bekannt vor …
Wieso die sowieso unsichere Zukunft den Menschen in einer Vorausschau so sehr am Herzen liegt, mag den Grundsätzen der menschlichen Psyche geschuldet sein. Wie gerne würde man wissen, was kommt. Aber dann wäre ja auch die Spannung weg. Ändern kann man daran sowieso wohl wenig. Und es kommt am Ende (zum Glück!) meistens anders, als man denkt oder besser: gedacht hat.
Den wahrscheinlich größten Hype der Neuzeit hat wohl Krake „Paul“ aus dem Oberhausener SEA LIFE verursacht. Paul sagte die Ergebnisse aller acht Begegnungen der Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika durch Wahl der richtigen Futterbox voraus. Bei der letzten Vorhersage für das Endspiel waren 200 Journalisten aus aller Welt am Becken vor Ort. Ein exzellentes Beispiel für eine wirklich gelungene PR-Aktion. So mancher Politiker träumt davon, auch acht Arme zu haben, und dazu noch einen Tintensack!
Würde Paul noch leben (leider schon 2010 verstorben), so könnte man Futterboxen mit Städtenamen anbieten, in denen schließlich ein Dieselfahrverbot erlassen wird. Nach dem häufig missverstandenen Urteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts sind ja viele mit Vorhersagen dieser oder jener (Feinstaub?) Art beschäftigt.
Es hängt halt sehr viel von diesen Entscheidungen ab. Auch hier sind Prognosen häufig schwer zu verstehen. Sperrt man eine Straße oder einen Straßenabschnitt (wie auch immer kontrolliert) für gewisse Verkehre, so werden diese zwar die lokale Messstation weniger belasten, durch die längere Umfahrungsstrecke wird dies allerdings in der Fläche zu einer Mehrbelastung führen. Wer verkauft denn angesichts des Wertverlusts sein Dieselfahrzeug? Die kleine Streckenverlängerung meistern aktuelle Navigationsgeräte mit „umweltgerechter“ Leichtigkeit. Da tut sich sowieso dann ein ganz neuer Markt auf.
Wahlversprechen sind in der Tat leider keine wirklichen Prognosen. Sie ähneln mehr den von den Bürgern erhofften und ersehnten Wunschvorstellungen. Es hat schon etwas von Selbstbetrug, wenn die Bürger immer und immer wieder den Traumschlössern der Politiker Glauben schenken, die schon bei ihrer Veröffentlichung keine Baugenehmigung bekommen dürften. Am Ende stürzen sie aufgrund nicht vorhandener Statik sowieso in sich zusammen.
Eine der häufigsten „Ankündigungen“ betrifft unsere angeblich „staufreie“ Zukunft. Allen voran preschte seinerzeit der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) mit seiner später als „Provokation“ enttarnten Vision (noch eine weitere Art der Zukunftsbetrachtung, Helmut Schmidt lasse ich hier mal weg) vom „staufreien Hessen 2015“. Ein Besuch vor Ort belehrt heute jedoch jeden eines Schlechteren.
Wofür sind also solcherlei Sprechblasen überhaupt gedacht? Ganz so blöd ist die Bevölkerung am Ende ja doch (noch) nicht. Selbst beim NRW-Landtagswahlkampf letztes Jahr wa(h)r Staubeseitigung ein prominentes Thema, und das sowohl bei der CDU als auch bei der SPD, beide nun in Regierungsverantwortung. Ein Thema, mit dem man Stimmen fangen kann, ohne liefern zu müssen. Und das überall in Deutschland. Der Wähler verliert leider schnell die Erinnerung an einmal gemachte Wahlversprechen und so regiert es sich dann ganz locker mit immer mehr Staus dahin. Die Gründe sind schnell anhand unveränderbarer externer Faktoren erklärt. So isses denn halt!
Stau ist etwas nicht direkt Fassbares. Man steht zwar drin, aber irgendwie erkennt man die „großen“ Zusammenhänge dann am Ende doch nicht. Wer sind denn jetzt die Verantwortlichen? War der Stau unvermeidbar? War er vielleicht sogar gewollt? Das hat es häufig genug gegeben. Wie wird es also mit dem Stau weitergehen? Und da überschlagen sich die Prognosen.
Veröffentlichte Zukunftsvorstellungen gab es in der Geschichte natürlich schon viel früher. So entstand das „Opium des Volkes“, wie Karl Marx schon 1843/44 vermerkte. Bei ihm ganz gezielt auf die Religion bezogen. Aber Religion ist ja auch nur eine andere Variante der Prognose. In dem Falle über den Tod hinaus. Doch wie sagte einst der deutsche Komiker Heinz Erhardt: „Das Leben ist eigentlich nur eine Unterbrechung des Totseins.“
Nun sind die tatsächlichen „faktischen“ Prognosen alles andere als rosig. Ich weiß nicht, woher dieser ewige Drang nach positiver Einschätzung der Entlastung unserer Hauptverkehrsadern kommt. Die zugrunde liegende Argumentationskette entbehrt eigentlich jeder Grundlage. Wir werden uns auf massiv schlechtere Verkehrsverhältnisse einstellen müssen. Dafür bedarf es keiner Prognose. Die Fakten liegen eben klar auf dem Tisch. Schade nur, dass keiner den Tisch abräumt …
Was sollen also Prognosen letztendlich bewirken? Sie werden rein PR-mäßig publiziert und sollen Aufmerksamkeit erregen. Eine ganze Wirtschaftsbranche finanziert sich durch fadenscheinige Zukunftsprojektionen. Die Bezahlung sollte eigentlich erst nach Kontrolle des Eintreffens der Prognose erfolgen. Es wird so viel Geld für so viel vorhergesagten Blödsinn ausgegeben, dass einem geradezu schwindelig wird. Der Grundsatz scheint nach dem wohl fälschlicherweise Konrad Adenauer zugeschriebenen Zitat zu lauten: „Wat kümmert mich ming Jeschwätz von jestern?“
So gibt es leider auch wenige Untersuchungen über die „Treffsicherheit“ von den Vorhersagen. Beim Wetter kennt man das, stimmt eh meistens nicht (so ganz), kann aber jeder selbst überprüfen. Der zeitliche Zusammenhang ist aber stringenter. Bei Wahlvoraussagen ist das ähnlich. Welche Pleiten haben wir da schon erlebt!
Der ADAC hat ja im Jahre 2004/05 mit einer Studie den Versuch einer Analyse der einstmals gemachten Verkehrsprognosen unternommen. Ralf Ratzenberger zeichnete damals dafür verantwortlich. Die Ergebnisse waren ernüchternd. Sie zeigten einfach nur, dass man sich davor hüten sollte, Prognosen allzu ernst zu nehmen. Die Prognose der Prognosen, also die sogenannte Metaebene der Kaffeesatzleserei, muss erst noch etabliert werden. Schade nur, dass sich darum eigentlich kaum einer kümmert.
Verkehrstechnisch in die Zukunft zu schauen, war schon immer sehr reizvoll. Begutachtet man die die klassische Literatur, waren Flugautos und Flügeltüren immer ganz vorne dabei. Nicht dass die Flügeltüren zum Fliegen wichtig wären, sie dienten nur als Designelement, so wie beim Tesla Model X.
Dabei stand die gesamte Zukunft der Automobilisterei ja von Anfang an auf wackeligen Rädern. So unkte schon Gottlieb Daimler, Erfinder, 1901: „Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.“ Damit hat er letztendlich nicht recht behalten, denn wer braucht noch einen Chauffeur? Die Autonomen lassen grüßen!
Schaut man noch tiefer in die Zukunftsvisionen, so treten dort interessante Details zutage. In Zeiten von Donald Trump scheint ja sowieso alles möglich zu sein. Ein Projekt, das ihm bestimmt Spaß machen würde, ist in dem Buch „Der letzte Tag der Schöpfung“ von dem bekannten Science-Fiction- Autor Wolfgang Jeschke beschrieben. Dabei geht es darum, durch Zeitreisen in die vormenschliche Vergangenheit vor fünf Millionen Jahren Erdöl aus dem arabischen Raum in den Westen abzupumpen. Das Mittelmeer war zu dem Zeitpunkt ausgetrocknet. Die „Messinische Salinitätskrise“ (MSC) klingt doch ganz attraktiv für diese Trockenperiode im Mittelmeer. Da war nichts mit schippern und baden. Man hätte aber dann einfach ein paar Leitungen legen können …
Nun haben die Zeitreisen in die Vergangenheit ein gewisses logisches Problem.
In die Zukunft kann man eigentlich problemlos reisen. Einfach einfrieren, auftauen und wiederbeleben lassen. Frösche haben so was nachgewiesenermaßen drauf. Es gibt schon einige Hundert Menschen, die sich der „Kryonik“ anvertraut haben. Ob sie jemals wieder unter uns, na sagen wir besser unseren Nachfahren, weilen werden, ist genauso Wahrsagerei wie alles andere auch. Man hofft hier ja, dass die Medizin Fortschritte macht und sie einem nach der Eiszeit helfen könnte. Da ist Stickstoff auf einmal hilfreich, allerdings in seiner ultrakalten und reinen Form.
Mit der Vergangenheit gibt es wie gesagt ein Problem. Bei der Lottoannahmestelle den richtigen Tipp abzugeben, gehört noch zu den kleineren Übungen. Man könnte ja sogar „Dieselgate“ aus der Welt schaffen. In der Theorie der „Mehrfachwelten“ sehen wir sozusagen nur ein Programm aus vielen möglichen. Man könnte dann einfach „umschalten“, in den verschiedenen Weltszenarien hin und her zippen. Das scheint die Menschen eigentlich gar nicht so sehr zu beunruhigen. Kennt man die Vielschichtigkeit doch vom allabendlichen Fernsehmarathon.
In der Geschichtswissenschaft ist es eine etablierte Forschungsrichtung: kontrafaktische Geschichte. Was wäre, wenn es nie einen Verbrennungsmotor gegeben hätte? Oder wie sähe die Welt ohne Trump aus? Sehr spekulativ natürlich, aber man kann ja mal träumen …
Und so schließt sich der Kreis der Prognosen. Am Ende sind sie doch nur eine Art Droge, mit der man versucht, die Bevölkerung bei Laune zu halten. Ich bin aber dazu übergegangen, die Dinge beim Namen zu nennen. Im Verkehr wird nix besser, zumindest in den nächsten 10 bis 15 Jahren nicht. Erhebliche und substanzielle Sanierungsmaßnahmen stehen uns bevor, ungewisse Entscheidungen über mögliche Fahrverbote und am Ende planlose Alternativkonzepte.
Wie das mit den Prognosen weiter geht, weiß ich nicht. Es wird sie aber auf jeden Fall weiter geben. Und die Menschen werden sie weiterhin zur Kenntnis nehmen und am Ende entsetzt sein. Ob das allerdings immer sinnvoll ist, bleibt diskussionswürdig. Vielleicht ist das mit dem „Opium des Volkes“ dann doch vorzuziehen, was immer man für sich daraus macht.
AUTOR
PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein- Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.