Wissens-Wert
Ein Leben lang treibt die Menschen die Frage um, was sie wirklich wissen oder vielmehr: was sie wissen möchten. Ein wesentliches Antriebsmoment dabei ist die Neugier. Um diese Neugier zu befriedigen, sind wir bereit, in anderen Bereichen Abstriche zu machen. Wie der bekannte Filmemacher Söhnke Wortmann kürzlich bei einer Preisverleihung treffend bemerkte: „Die Lesebrille ist der Sieg der Neugier über die Eitelkeit.“

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Aber nicht nur die Neugier treibt uns an; zum Leben und für die Arbeit ist viel mehr gefragt und notwendig. Da ist dann schnell von „Allgemeinbildung“ oder auch „Weltwissen“ die Rede. Die Schule (und ein Studium) vermitteln uns die Basis für weitergehende Beschäftigungen mit was auch immer. Dabei ist nicht alles wirklich wichtig oder es wert, abgespeichert zu werden. Überhaupt hat sich diese Notwendigkeit in den letzten Jahren stark verschoben.
Denn heute ist es ja eigentlich ausreichend zu wissen, wo man nachschauen muss oder kann, um die aufgeworfenen Fragen beantworten zu können. Ob Wikipedia oder ChatGPT, die digitalen (künstlich intelligenten) Helferlein lauern allerorten und vermehren sich gnadenlos. Wozu also noch etwas merken? Eine vergleichbare Entwicklung gab es schon bei der Einführung der Taschenrechner, als das Kopfrechnen praktisch ad acta gelegt wurde. Oder als die „Navis“ unsere Autos eroberten und die Landkarten in Papierform und im Kopf der Menschen von der Bildfläche verschwinden ließen.
Immer schon gab es auch Wettbewerbe um Wissen, allen voran die Quizsendungen im Fernsehen. Die Älteren erinnern sich noch an Heinz Maegerlein in der bis 1969 ausgestrahlten Rateshow „Hätten Sie’s gewußt?“. Unter der Rubrik „Was man weiß – was man wissen sollte“ war dann eben Allgemeinwissen gefordert. Bei mehrmaligem Gewinn in der Sendung war der Hauptpreis immerhin ein BMW Isetta! Auf Heinz Maegerlein geht übrigens auch die legendäre skisportliche Randbemerkung „Sie standen an den Hängen und Pisten“ zurück.
Heute jagt eine Quizzerei die nächste („Gefragt – Gejagt“) und mit „Wer wird Millionär?“ brachen schließlich alle Dämme. Fairerweise soll nicht „Der große Preis“ mit Wim Thoelke unerwähnt bleiben; abendfüllende Unterhaltung mit großen Shows war seinerzeit eben das Maß aller Dinge. So fragt man sich allerdings doch zusehends, welchen Wert diese Fragenspiele überhaupt noch haben, ob der Überlegenheit der binären Datennerds, die in Sekundenbruchteilen die (richtigen) Antworten parat hätten. Hatten nicht Computerprogramme schon die Vormachtstellung beim Schach und dem komplexeren Go gegenüber menschlichen Rivalen übernommen? Auch beim Wissen sollte sich da kaum noch ein Gap auftun.
Der Vergleich kann aber natürlich auch nicht gelingen. Während die Menschheit insgesamt Wissen schafft und sammelt, ist der Einzelne natürlich nur in einem Bruchteil davon unterwegs. Ein kruder Blick auf die überhaupt verfügbare Kapazität des menschlichen Gehirns kann da nur einen ersten Anhalt liefern. Frühe Schätzungen waren da auch eher pessimistisch, gingen sie doch von schlappen 20 bis 100 MB aus. Aus heutiger Sicht würde man eine solche Aussage als diskriminierend einstufen und verbieten (müssen). Sind doch immerhin rund 100 Milliarden Nervenzellen dort verbaut, mit multiplen Verbindungen untereinander.

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Vergleicht man diese Annahme der Kapazität mit der einstmals so liebgewonnenen 3,5-Zoll-Floppy-Disk („floppy“ wegen der weichen, wabbeligen Speicherscheibe) mit bis zu 1,44 MB, so würde all unser Wissen auf lediglich 70 Disks passen!
Dass man mit wenig Speicherplatz viel erreichen kann, zeigte allerdings schon Apollo 11 auf dem Weg zur ersten Mondlandung. Denn der AGC („Apollo Guidance Computer“) begnügte sich mit 60 KB Festwertspeicher (ROM) und 4 KB Arbeitsspeicher (RAM). Vergleiche zu heutigen Smartphones und ihren Speicherkapazitäten erübrigen sich. Und auch die heutigen Hirnkapazitäts-Schätzungen klingen etwas freundlicher, liegen sie doch bei rund einem Petabyte (PB), welches einer Million Gigabyte oder 1.000 Terabyte (TB) entspricht. Aktuelle, bessere Laptops haben ein TB Speicher, und so tragen wir ständig die Kapazität von rund 1.000 neuen Laptops mit uns herum!
Ganz so einfach ist das mit dem Gehirn dann doch nicht, da es besser „organisiert“ ist als ein Computer und sein Speicher. Denn im Gehirn geschieht die Verarbeitung von Informationen dynamisch; da wird nicht einfach Wissen statisch abgespeichert. Die Wissenschaft hat versucht, diese Prozesse im Modell nachzustellen. Sogenannte neuronale Netzwerke sind dabei im mathematischen Sinne entstanden. Der Nobelpreis für Physik 2024 ist für entscheidende Leistungen genau auf diesem Gebiet an John Hopfield und Geoffrey Hinton vergeben worden. Interessanterweise basieren Ideen hier auch auf der Theorie der Spingläser, einfacher ausgedrückt, ungeordneter magnetischer Legierungen. Paradoxerweise lässt aber gerade diese Unordnung Gedächtnis- und Assoziationsprozesse zu. Ein Blick in diverse (nicht nur meine!) Büros bestätigt eigentlich diesen Zusammenhang. Tatsächlich gab es 2021 auch dafür einen Physik-Nobelpreis an Giorgio Parisi.
Das menschliche Gehirn ist wohl das beste Beispiel dafür, dass das Zusammenspiel der Komponenten mehr ist als nur die einfache Summe derselben. Wissen im Gehirn wird also eher codiert als einfach abgelegt. Und wenn es lange nicht mehr gebraucht wurde, gerät es dann auch schon mal in Vergessenheit. Das Kurzzeitgedächtnis heißt im Übrigen nicht umsonst so, da wird erst gar kein echter Speicherplatz benötigt. Es sei denn, irgendeine Beziehung zu vorhandenem Wissen wird hergestellt. Ein wesentlicher Zielpunkt von Werbung ist eben darum, Marken praktisch „einzubrennen“ in das neuronale Durcheinander.
Richtet man den Blick nach oben, also darauf, welche Daten auf unserer Erde überhaupt gespeichert sind, muss man nochmals Byte-Stockwerke höher denken. Da ist dann von Exa- und Zettabyte die Rede. Alle diese unvorstellbaren Summen unterscheiden sich jeweils um den Faktor 1000. So vermutet man für 2025 rund 175 Zettabyte (ZB) an Daten weltweit, was aber nicht unbedingt einer entsprechenden Menge an Wissen entspricht. Ganz im Gegenteil, Müll wird im digitalen (eben auch begrenzten) Raum zum Problem wie im realen. Nur passiert hier alles im Verborgenen. Übrigens findet man in diesen Dimensionen dann auch selbst bei der Bezeichnung Unklarheiten. So ist im Netz von „Zettabyte“ zu lesen, wobei Zeta im griechischen Alphabet auch für die Zahl 7 steht ....
So entsteht heute, gerade bei der jüngeren Generation, der Eindruck, dass Wissen unnötig sei, denn man könne ja (fast) alles googeln (seit 2004 im Duden vertreten!). Andererseits ist es ja auch ein schönes Aushängeschild, wenn man mit fundiertem Wissen aktiv glänzen kann. Heute ist Wissen aber nicht nur mengen-, sondern auch zeitabhängig. Weiß man Dinge schneller als andere, kann man sie damit überraschen, nach dem Motto: „Wussten Sie eigentlich schon ...“.
Es bleibt aber die entscheidende Frage, welches Wissen man zum (Über-)Leben überhaupt benötigt. Dafür wurde der Begriff des Weltwissens geprägt. Dabei handelt es sich nicht notwendigerweise um die bewusste „explizite“ Kenntnis von etwas, sondern einfach um die „implizite“ Steuerung von Reaktionen. Selbst die simpelsten Organismen haben ein „Zeitgefühl“, können Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung nicht nur erkennen, sondern sogar auch nutzbringend einsetzen. Des Weiteren „wissen“ sie um die Unverträglichkeiten bestimmter chemischer Substanzen oder extremen Temperaturen oder aber auch um die Notwendigkeit der Aufnahme von Stoffen und/oder Flüssigkeiten als Energielieferant. Bei Aristoteles gilt dieses Wissen als a priori, also ohne Erfahrung dazu zu haben.
Selbst der Coronavirus, wo immer er herkommt, scheint ja einen Plan zu haben, obwohl man darüber streiten kann, ob er wirklich „lebt“. Denn allein gelassen ist er praktisch hilflos. Er braucht Unterstützung in Form von Wirtszellen. Vergleichbar mit einem Wirtshaus, wo Menschen lebenswichtige Nahrung (!) zu sich nehmen und gleichzeitig ihr Wissen (oder besser: ihre Gerüchte oder Theorien) weiter verbreiten ...
Eigentlich entsteht Wissen ja bekanntlich durch Lernen, beispielsweise durch „trial and error“, also Versuch und Irrtum. Das Besondere dabei ist jedoch die Möglichkeit, dieses Wissen abzuspeichern und sogar zu vererben. Und das nicht nur im biologischen Sinne, sondern auch psychologisch durch die Kultur. Für Letzteres hat der bekannte Bio- und Zoologe Richard Dawkins („Das egoistische Gen“) den Begriff der „Meme“ eingeführt, der im Gehirn gespeicherte Informations- oder Gedankenmuster beschreibt, die kommuniziert und damit weitergegeben („vererbt“) werden können. Dabei können, wie in der Biologie, Mutationen, hier eben inhaltlicher Art, auftreten.
In der Internetwelt von heute hat der Begriff tatsächlich selbst eine Mutation erfahren, denn ein Meme (jetzt Singular!) ist in der medialen Internetwelt ein kleines, zumeist selbst erstelltes oder montiertes bildliches Werk mit wenig Text und häufig humoristisch-kritischen Inhalten. Genau festgelegt ist das Format nicht, aber gemeinsam ist den Memes die virale Verbreitung im Netz.
Der Mensch als Krone der Schöpfung kann natürlich nun noch mehr. Denn er kann Theorien aufstellen, die über die schon gemachten Erfahrungen teilweise weit hinausgehen und dann bestätigt oder widerlegt werden können. Gibt es andere intelligente Zivilisationen im Weltall oder nicht? Wird künstliche Intelligenz ein Bewusstsein entwickeln können oder nicht? Theorien zum Geisteszustand von (aktuellen) Politikern verbieten sich an dieser Stelle aufgrund der Flüchtigkeit des Untersuchungsgegenstandes.
Dabei stimmt es bedenklich, dass unserem BewusstseinnurTeiledesWeltwissenszugänglich sind. Erfolgen doch sowieso rund 95 Prozent unserer Handlungen automatisch. Andererseits ist alles das, was wir täglich erfahren, im Job an Fachwissen erlangen oder auch wissenschaftlich Tolles leisten, dem Weltwissen egal, also auch die ganzen Zettabytes in den digitalen Warteräumen. Genau an der Stelle entstehen die Probleme künstlich intelligenter Roboter der Zukunft, denn die fischen hauptsächlich in den Zettateichen und müssen erstmal ihr eigenes Weltwissen „erlernen“. Das Weltwissen liegt aber anscheinend ganz unten im schlammigen Boden ...
Neben dem Weltwissen und den anderen nützlichen Wissenswelten gibt es eben auch die Abgründe des nutzlosen Wissens. In vielen Fällen handelt es sich auch einfach um Renommierwissen, um mit wenig dennoch Eindruck zu schinden. Denn wen interessiert es letztendlich, dass es vom oben erwähnten Weltall keinen Plural gibt? Warum auch? Es gibt ja nur eins. Oder gibt es doch die viel beschworenen Mehrfachwelten
Das nutzlose Wissen öffnet jedenfalls Tür und Tor für allerlei Kurioses. Selbstbezüglich könnte man jetzt schelmisch sagen, dass das nutzlose Wissen eben als gutes Beispiel herhalten könnte für eben nutzloses Wissen. Aber da endet auch die Nutzlos-Spirale; mehr sollte man das Metier nicht bedienen. Die Frage, die dabei häufig untergeht, ist, ob das Dargelegte tatsächlich stimmt.
In eine Geschichte des Straßenverkehrs gehört auf jeden Fall der Zebrastreifen, dessen Herkunft nicht genau geklärt ist, sich aber weltweit großer Beliebtheit erfreut. Nun gibt es eine neue, bisher natürlich nicht „bewiesene“ Theorie, die eine andere Ausrichtung der Streifen für wirkungsvoller hält, nämlich um 90 Grad gedreht quer zur Fahrtrichtung der Autos. Das würde für beide Seiten besser sein: für die Autos eine Barriere und für die Fußgänger eine Wegeführung. Ob das stimmt, wird die Menschheit vielleicht nie erfahren (!). Den Zebras ist die ganze Schwarz-Weiß-Malerei wohl egal, den gebeutelten kommunalen Finanzen macht das aber trotz Milliardenspritze mehrere weiße Striche durch die Rechnung.
AUTOR
PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er an die Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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