Parallele Welten
So manchen von uns beschleicht bisweilen das ungute Gefühl, in einer etwas anders gearteten Welt zu leben als all die anderen Menschen, sozusagen in einer Parallelwelt. Klar, das Treiben in unseren Köpfen ist von außen (noch) nicht sichtbar. Aber die uns umgebende „Welt“ ist doch eigentlich für alle gleich.

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Doch damit beginnt auch schon ein essentieller Irrtum. Denn unsere Wahrnehmung beschränkt sich immer nur auf Ausschnitte des uns Dargebotenen. Es wird auf dieser obersten Ebene schon eine Menge herausgefiltert, andernfalls würden die ständig auf uns einprasselnden Eindrücke die Gehirnkapazität komplett überfordern. Die extremste Variante davon existiert in „Savants“, früher sogar diskriminierend Idiot Savants (wörtlich: gelehrter Idiot) genannt. Dabei handelt es sich um Inselbegabte, die in kleineren Teilbereichen, den „Inseln“, erstaunliche Leistungen erbringen können, ihre übrigen Fähigkeiten aber deutlich unter dem Durchschnitt liegen.
Die Gemeinsamkeit bei den unterschiedlichen besonderen Fähigkeiten scheint darin zu bestehen, dass die angesprochene Filterfunktion dort nicht existiert und demzufolge beliebige Datenmengen ohne Wertung als wichtig oder unwichtig abgespeichert werden. Beispiele sind das fotografische („eidetische“) Gedächtnis, das nach nur einem Helikopterflug über Weltstädte ein detailliert gezeichnetes Bild bis ins kleinste Detail ermöglicht, eben wie eine Fotografie, oder enorme Zahlenfähigkeiten. Wer kann sich schon über 20.000 Nachkommastellen von Pi merken
Bekannt geworden ist das Savant-Syndrom durch den Film „Rain Man“ mit Dustin Hoffman in der Hauptrolle. Vorlage dazu war Kim Peek, der nach eigener Aussage den Inhalt von 12.000 Büchern (nach einmaligem Lesen!) praktisch komplett rezitieren konnte. Mit einem Stereoblick erfasste er mit jeweils einem Auge eine Seite zur gleichen Zeit und brauchte dafür nur sieben (!) Sekunden. Unweigerlich wird man an die Bezaubernde Jeannie aus der gleichnamigen Serie aus der zweiten Hälfte der 60er-Jahre erinnert (mit Dallas-Ikone Larry Hagman), die Bücher zum Lesen nur wie ein Daumenkino durchflippte. Die genaue Herkunft dieser Fähigkeitskonzentration ist auch heute noch nicht ganz klar.
Wie ein spezieller Fall belegt hat, kann es durch einen heftigen Schlag auf den Kopf praktisch jeden treffen. Das hat aber wohl nichts mit der pädagogischen Unsinnsformel von damals zu tun, leichte Schläge auf den Hinterkopf würden das Denkvermögen erhöhen. Obwohl leichte Stromschläge einer älteren Studie (2010) zufolge die mathematischen Fähigkeiten angeblich (kurzfristig) erhöhen können. Davon sollte man sich aber nicht täuschen lassen. Fünfstellige Zahlen wird man dann auch nicht multiplizieren können. Überhaupt sind weltweit nur um die hundert Fälle mit außerordentlichen Inselnanlagen, worin auch immer, bekannt.
Obwohl wir uns im normalen Leben nicht in diesen Extremregionen der Wahrnehmungseinschränkung bewegen, entwickeln wir doch ein Muster, um für uns relevante Informationen aufzunehmen. Auf welche Reize man reagiert, hängt komplett von der persönlichen Ausrichtung ab. Nicht umsonst fabulierte einst der Vordenker der Deutschen Johann Wolfgang von Goethe: „Man sieht nur, was man weiß.“

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Ausgabe 2/2024

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Dass die verschiedenen Welten nicht nur in unseren Köpfen ihr Unwesen treiben, sondern im Besonderen auch in den Gehirnen von Physikern, ist seit einigen Jahren verstärkt ein Thema. Nur ist die Weltsicht hier weit radikaler und weniger akzeptiert.
Die Quantenmechanik sorgte eigentlich immer schon für heftige Diskussionen in Bezug auf ihre Interpretation. Die gängigste Ausformulierung ist die Kopenhagener Deutung nach Niels Bohr und Werner Heisenberg. Sie basiert aber wesentlich auf einer an sich unbefriedigenden Annahme, nämlich dass quantenphysikalische Vorgänge im Wesentlichen nicht deterministisch ablaufen und der Zufall in der Tat seine unschönen Finger im Spiel hat. Das ist auch kein Fehler der Theorie, den man durch weitere Forschung ausmerzen könnte, sondern das liegt in der Natur der ganz kleinen „hibbeligen“ Dinge.
Nun hat sich damit (natürlich) nicht jeder Wissenschaftler zufriedengegeben und es wurde (wird) nach alternativen Interpretationen gesucht. Eine davon ist in jüngerer Zeit wieder verstärkt diskutiert worden, gilt doch auch ihre Geschichte als ein wenig obskur. Es handelt sich dabei um die Viele-Welten-Interpretation (VWI) und diese geht zurück auf den amerikanischen Physiker Hugh Everett III. aus dem Jahre 1957. Das Tolle an der Deutung ist, dass die aufgrund der Wahrscheinlichkeiten unterschiedlich zu erwartenden Messergebnisse einfach in unterschiedlichen Welten realisiert sind. Je nach Ergebnis lebe ich halt in einer anderen Welt weiter.
Niels Bohr gefiel das Ganze überhaupt nicht und Everett musste seine Doktorarbeit vor der Veröffentlichung stark verkürzen. Erst 1973 wurde schließlich die komplette ursprüngliche Arbeit in einem Sammelband publiziert. Die Kritiker sahen allerdings immer wieder das Gesetz der Einfachheit („Ockhams Rasiermesser“) verletzt, da man es auf einmal mit unzähligen parallelen Welten zu tun hat. Everett verabschiedete sich seinerzeit frustriert von der physikalischen Forschung und war dann als Berater bezüglich Nukleareinsätzen für das Pentagon tätig.
Umgangssprachlich kann man sich das wie bei einer Routenentscheidung an einem Abzweig vorstellen: rechts oder links legt die weitere Fahrt, oder besser die befahrene Welt, fest. Da die verschiedenen Welten aber nicht interagieren, ist es auch nicht möglich zu sagen, „Was wäre, wenn“. Bei Navigationsgeräten ist das ja ähnlich: Hat man sich für eine Route entschieden, weiß man hinterher nicht, wie es mit der anderen Route gelaufen (oder besser: gefahren) wäre.
Diese nicht ganz ernst zu nehmende Korrespondenz birgt aber noch die Möglichkeit zu anderen Spekulationen größeren Ausmaßes. So beschäftigt sich die virtuelle (oder kontrafaktische) Geschichte mit Spekulationen darüber, was gewesen wäre, wenn bestimmte historische Prozesse anders abgelaufen wären. Also was wäre beispielsweise passiert, wenn 1966 das WembleyTor nicht gegeben worden wäre? Generationen haben sich darüber schon den Kopf zerbrochen. Es war letztlich die einsame Entscheidung des Schweizer Schiedsrichters Dienst, der zuerst auf Eckball, dann nach Rücksprache mit dem sowjetischen Linienrichter Bachramov auf Englisch (obwohl der angeblich gar kein Englisch sprach!) auf Elfmeter entschied.
Heutzutage ist die Frage paralleler möglicher Entwicklungen wieder hochaktuell. Weniger wegen des Ausgangs der Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land denn wegen politischer und ökonomischer Entscheidungen. Die Frage, wie die Welt heute ohne Corona aussehen würde oder was ohne Lockdowns und Schulschließungen passiert wäre, ist mittlerweile müßig. Ändern kann man jetzt sowieso nichts mehr. Genügend Abzweigungen gab es allemal. Die Aufarbeitung in einem Untersuchungsausschuss oder einer Enquete-Kommission wird sowieso noch eine Weile in Anspruch nehmen.
Relevanter und folgenreicher sind in der Tat Fragen der Mobilität. Ein beliebter Vortragstitel von mir lautete: „Wie wir uns bewegen werden“. Die Antwort darauf ist heute wahrscheinlich schwieriger denn je. Überhaupt sind Diskussionen zum Thema Verkehr ungefähr von der Art, wie oben zu den Viele-Welten-Theorien beschrieben, die Alternativen stehen mathematisch gesprochen orthogonal aufeinander. Da gibt es nur ein „Entweder oder“, aber kaum ein „Sowohl als auch“. Dafür sind die Fronten zu verhärtet, häufig aufgrund des ideologischen Überbaus.
Tempolimit auf jeden oder keinen Fall. Daran arbeite(te)n sich schon Generationen von Bundesverkehrsministern ab. Da haben wir genau ein Beispiel für zwei dieser vielen unversöhnlichen Welten, eine mit und die andere ohne Geschwindigkeitsbeschränkung. Die Argumentation hat auch hier die Qualität von „gefilterter Realitätswahrnehmung“. Ein mittlerweile häufig anzutreffendes Syndrom. In der Außendarstellung könnte man das dann schlicht als „poetischen Realismus“ bezeichnen. Ich dichte mir halt meine Welt so zusammen, dass es passt. Im Land der Dichter und Lenker doch eigentlich eine natürliche und zu erwartende Reaktion. Kritischer wird der „Krieg der Welten“ zwischen der Dynastie der Verbrenner und dem Herausforderer Elektroauto. Hier zeichnet sich sehr schön die ganze Bandbreite der „Verzweigungsstrategien“ ab. Denn Verkehr soll ja gelenkt werden (zumindest in Deutschland), und zumindest bei maroden Brücken gibt es dafür offensichtlich keine Strategie, beim Antrieb dafür aber umso mehr. Schaut man in beiden Fällen auf die „Schöne neue Welt“, so wird sie im (geplanten) Idealfall einfach weniger Verkehr enthalten, in welcher parallelen Welt der vielen möglichen der dann auch immer stattfinden soll.
Denn Grenzen physikalischer Art sind klar gesetzt. Jeder Antrieb braucht Energie, die dann auch sogar noch verfügbar sein muss! Benzin, Diesel, Strom, E- und A-Fuels (!), Wasserstoff bis hin zu direkter Solarenergie, da gibt es viele Möglichkeiten, sich eine Welt zusammenzupuzzeln. Das Fatale in der Situation ist, dass gewisse Routenentscheidungen irreversibel sind, nicht umkehrbar. Oder eben sehr schwer und mit langem zeitlichen Vorlauf. Verliere ich das Know-how in einem Sektor, wird es schwer, das in einem späteren Schritt wieder herzustellen. Dafür sind die Ausbildungsanforderungen langwierig und die Wissenschaft schreitet ja auch voran. Man kann also nicht an vorherige Kenntnisse einfach anknüpfen.
Man wird dann einfach abgehängt. Und Deutschland definiert sich hauptsächlich durch die hohe Technik- und Bildungskultur. Da wäre es eine Katastrophe, in eine Richtung mit davon weit entferntem Ziel abzubiegen. Der Vorteil paralleler Entwicklungen ist eben auch der einer freieren Richtungswahl. China fährt, was die Antriebe angeht, mehrgleisig und fokussiert sich nicht auf Elektro. Verbrenner mit Kraftstoffen jenseits von Benzin und Diesel haben dort anscheinend eine Zukunft. Wahrscheinlich eine kluge Strategie, aber „Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen“. Neben anderen wird dieses Zitat auch oben erwähntem Niels Bohr zugeschrieben.
In welche Welt wir abbiegen, liegt ganz wesentlich an den Prioritäten, die wir setzen. In einer Fernsehsendung des ZDF („MaiThink X“) wurde die Energieeffizienz von reinem Elektroantrieb, einem mit Brennstoffzelle und einem Verbrennungsmotor mit E-Fuels verglichen. Das wenig überraschende Ergebnis sah die E-Autos (73 %) vor der Brennstoffzelle (31 %) und den E-Fuels (20 %). Die Schlussfolgerung lautete: Damit ist das E-Auto die einzig vernünftige Lösung. Nun kann man aber zu Recht fragen, ob die Energieeffizienz das oberste Kriterium ist. Da der Staat laut Minister und Vizekanzler Habeck keine Fehler macht, scheint das mit der Energieeffizienz angesichts des Abschaltens der letzten Atomkraftwerke nicht so weit her zu sein. Plötzlich gehen am Horizont wie an einem klaren Abendhimmel weitere Ziele auf: Klima und CO2, Finanzen, Ideologie, Nutzerfreundlichkeit, Nachhaltigkeit oder einfach zeitabhängige Trends, vorangetrieben von den jungen Menschen. Die Flexibilität scheint der Joker zu sein. Es scheint wie beim Rudern, verliert man einseitig ein Skull (Ruder), ist man fast immer zum Untergang verdammt. Noch drastischer zeigt das der Brückeneinsturz von Baltimore, bei der die Zerstörung eines von zwei wesentlichen Brückenpfeilern auch den Einsturz über dem zweiten verursachte. Nicht zu verwechseln mit dem bekannten Trinkspruch: „Auf einem Bein kann man nicht stehen!“.
Die Ampel-Regierung steht ja wohl auch teilweise bei Rot an einer Kreuzung (die Gelbphasen von drei (in Köln vier) Sekunden sind dabei übrigens vernachlässigbar). Da könnte man sogar mal kurz nachdenken, wohin abgebogen werden soll, anstatt einfach bei Grün weiter geradeaus zu „cruisen“. Aber die (laut Studien größte) Ablenkung im Fahrzeug entsteht durch intensive (Streit-)Gespräche mit den (Koalitions-)Partnern, die lassen dafür eigentlich keinen Raum, insbesondere wenn man sich sowieso schon verfahren hat. Aber sich selbst als „cool“ darzustellen ist ja eigentlich auch die Hauptidee beim Cruisen! Irgendwie passt das doch auf die Ampelsteuermänner.
Bei aller Weltenteilung bleiben Vorhersagen immer nur ein Blick in eine mögliche Welt. Einstein fand solcherlei Glaskugelschau sowieso recht überflüssig, war doch sein Wahlspruch: „I never think of the future, it comes soon enough.“ Oder frei übersetzt: Die (parallele) Zukunft steht direkt vor der Tür!
AUTOR
PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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