Tiefe Gräben
Die nicht nur von Bergsteigern aufgrund ihrer massiven Schönheit so geschätzten Erhebungen oberhalb des Meeresspiegels in Form von Bergen und Gebirgen müssten eigentlich vor Neid erblassen angesichts dessen, was die Gräben dieser Erde zu bieten haben, das dann allerdings unter Wasser. Denn da tun sich ganz andere Größenordnungen auf. Nur werden wir diesen nicht so richtig gewahr, da sie nicht direkt sichtbar sind. Denn während sich 14 Achttausender mühevoll gen Himmel strecken (und sich der fortschreitenden Erosion erwehren müssen), schaffen es immerhin sechs Gräben in den Weltmeeren auf mehr als 10.000 Meter Tiefe. Und diese befinden sich alle im westlichen Pazifik.

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Prominentester in dieser edlen Graben-Gemeinschaft ist zweifellos der Marianengraben, der sich bis 11.034 Meter in die Tiefe erstreckt. Aber auch der Tonga-, Bonin-, Kurilen-, Philippinen- und Kermadecgraben lassen den Primus der Berge Mount Everest mit 8.848 Metern über dem Meeresspiegel alt aussehen.
Ungefähr so alt sehen auch die Tierchen ganz weit unten aus, allen voran die „Seegurken“, die zur Gattung der Stachelhäuter gehören (wie beispielsweise auch die Seesterne). Sie können bis zu zwei Meter lang werden und sind als die „Herrscher der Gräben“ bekannt. Man sollte sich vor Augen halten, dass ab 1.000 Meter Tiefe die Dunkelzone beginnt, aber 90 Prozent der Tiefseebewohner können selbst Licht erzeugen! Dieses dient jedoch eher der Irritation möglicher Feinde oder potenzieller Opfer. Bei 10.000 Meter Tiefe beträgt die Temperatur nur noch konstant zwei bis drei Grad Celsius. Und die Last von einer Tonne pro Quadratzentimeter muss man auch erst einmal „wegdrücken“, dazu noch das Problem der Nahrungsversorgung (organisches Material aus dem Meeresschlamm). Na dann mal guten Appetit!
Die Tiefsee ist nichtsdestotrotz der größte Lebensraum der Erde und vieles dort unten ist bis heute weitgehend unbekannt. Sie bedeckt etwa 65 Prozent der Erdoberfläche und betrifft 80 Prozent des Meeresraumes. Natürlich gibt es deshalb auch besondere Begehrlichkeiten, was dort potenziell zu fördernde Rohstoffe angeht. Denn da unten lagert eine Menge Interessantes für die Energie- und Mobilitätswende. So will man dort Mangan(knollen), Eisen, Kobalt, Nickel und Kupfer abbauen, aber das lebenswichtige Unterwasserökosystem soll gleichzeitig geschützt werden.
Dafür gibt es (natürlich!) auch eine eigene internationale Organisation. Die „International Seabed Authority“ (ISA) wurde vor 29 Jahren gegründet und hat ihren Sitz in Kingston, Jamaika. Sie soll sich um die Tiefsee kümmern, die definitionsgemäß bei 200 Meter Tiefe beginnt. Aber wie so häufig, tut sich hier eher ein Handlungsvakuum auf denn eine Hyperventilation. Dass überhaupt Aktion gefordert war, geht auf die Ankündigung eines Tiefseebergbau-Antrages des Pazifikstaates Nauru vor zwei Jahren zurück, der als Sponsor des kanadischen Konzerns „The Metals Company“ (TMC) auftritt.
Sehr verquer, wie so häufig bei solchen Verfahren, löste der Antrag auf den Abbau von Manganknollen in der Clarion-Clipperton-Zone (CCZ) zwischen Mexiko und Hawaii aus dem Jahre 2021 die sogenannte Zwei-Jahres-Klausel des UN-Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ, bekannter als Unclos, „United Nations Convention on the Law of the Sea“) aus. Danach Anträge auch ohne beschlossenes internationales Regelwerk innerhalb dieser Frist bearbeitet werden. Diese Zwei-Jahres-Frist ist allerdings im Juli 2023 ohne Entscheidung abgelaufen, und ein Regelwerk wird es auch bis Ende dieses Jahres nicht geben. Die ISA-Mitglieder umfassen immerhin 167 Staaten und die EU. Theoretisch könnte jetzt ein Moratorium für den Tiefseebergbau implementiert werden, bis endlich die Regeln aufgestellt und beschlossen sind. Länder wie Frankreich oder Chile sind für ein komplettes Verbot von Tiefseebergbau. Deutschland positioniert sich dabei auch eher zurückhaltend und plädiert wie die gesamte EU für eine „vorsorgliche Pause“, um die Meeresumwelt zu schützen und die weitere Erforschung der Tiefsee voranzutreiben.

Aktuelles Magazin
Ausgabe 6/2023

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Das neue Jahresspecial Elektromobilität.
Dies ist auf jeden Fall vonnöten, denn wir wissen mehr über die Oberfläche des Mondes als über den Boden der Meere. So sind gerade wieder drei gewaltige Unterwasservulkane in der Straße von Sizilien entdeckt worden. Die schwierige Zugänglichkeit lässt Unterwasservulkane immer noch exotisch erscheinen. Tausende noch unerforschte befinden sich in der dunklen Tiefe der Ozeane. Gerade einmal fünf Prozent von 300 Millionen Quadratkilometer Meeresboden sind erforscht. Die Sache mit den Manganknollen ist deshalb so attraktiv, da diese auch als polymetallische Knollen bezeichneten Objekte der Begierde eben auch die für die Batterieproduktion so wichtigen Metalle wie Kupfer, Nickel und Kobalt enthalten. Allerdings kommt eine Studie des Öko-Instituts im Auftrag von Greenpeace zu dem Resultat, dass die Tiefseerohstoffe für die Energiewende nicht maßgeblich seien …
Aber nicht nur in den geophysikalischen Tiefen der Meere tun sich tiefe Gräben auf, auch in der virtuellen Welt der menschlichen Psyche finden sich erschreckende Abgründe, da unversöhnlich Meinungen und Standpunkte gegeneinander positioniert werden. Man spricht dann häufig auch von „polarisieren“. Dieses Phänomen wird durch die allumfassende Medienvielfalt nochmals getriggert, sodass man am Ende gar nicht mehr unterscheiden kann, ob man Täter oder Opfer ist. Es scheint fast kein Thema mehr zu geben, dass dem logischen Prinzip vom „ausgeschlossenen Dritten“ entrinnen kann. Es gilt nur noch Ja oder Nein, dazwischen gibt es nichts mehr (lateinisch „Tertium non datur“). Die Umgangssprache hat da eine eigene Formulierung für gefunden in der durchaus bemerkenswerten Bauernregel: „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.“ Dafür braucht man nicht lange über Logik zu fabulieren.
Bei all der Meinungsmache, der wir täglich ausgesetzt sind, fehlt es förmlich an Zeit (und Willen!), uns mit den Argumenten eingehender auseinanderzusetzen. Es ist eben viel einfacher, das Denken anderen zu überlassen und sich lediglich einer Richtung anzuschließen (und sei es nur die eines Chatbots). Dabei helfen häufig auch emotionale Affinitäten, das fühlt sich dann einfach „besser“ an. Es gibt aber auch Situationen, in denen jede noch so fundierte Diskussion vollkommen überflüssig erscheint, da schlagende Argumente abprallen wie Regentropfen am gelben Friesennerz.
Hier scheint sich eine (weitere) Funktionsstörung des menschlichen Verstandes zu offenbaren, die der schnöden Logik klassischer Ausprägung durch schieres Ignorieren ein Schnippchen schlägt. Das Ergebnis jedenfalls ist unauflösliche Zwietracht. Das war den alten Griechen sogar eine eigene Göttin namens Eris wert. Ihr Erscheinen brachte stets Streit und Auseinandersetzung. Sie ist bekannt geworden durch den „Zankapfel“, den goldenen Apfel der Zwietracht. Diesen warf sie bei einer Hochzeit, zu der sie nicht mal eingeladen war, in die Gästerunde und es sollte auf dem Wege die schönste Frau des Abends gekürt werden. Es gab natürlich Streit, der im Nachgang auch noch zum Trojanischen Krieg geführt hat. Mit dem Zankapfel ist heute der zentrale Kern einer strittigen Auseinandersetzung gemeint.
Eris war von der Gestalt her klein, krumm, hinkend, schrumpelig. Sie entfaltete sich aber zu ihrer vollen Schönheit, so sie Neid und Hass erwirken konnte. Das war ihre Domäne. Ihre Nachkommen bilden eigentlich ein Gruselkabinett der Abgründe: Hunger, Kampf, Mord, Verblendung, Gemetzel und so weiter. Sehenswert ist trotzdem der Film „Der Gott des Gemetzels“ von Roman Polanski aus dem Jahre 2011 (praktisch ein Kammerspiel mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly nach einem Theaterstück der Französin Yasmina Reza). Eris wäre zu voller Schönheit erblüht angesichts der aggressiven Zuspitzung der Wortgefechte beim Treffen zweier Elternpaare zur (eigentlich) friedlichen Beilegung von Streitigkeiten zwischen ihren Kindern.
Beispiele für Grabenkämpfe mit wenig Tiefgang (!) gibt es wahrlich genug. Der Dauerbrenner „Tempolimit“, ob auf der Autobahn oder in der Stadt, erfüllt eigentlich alle Voraussetzungen für eine Auseinandersetzung dieser Art. Das Hin- und Hergeschiebe von Argumenten für Lärm- und Umweltschutz hat schon epische Dimensionen. Ist flächendeckend Tempo 30 in Innenstädten ja schon von keiner verkehrspolitischen Agenda mehr wegzudenken, so dreht sich die Abwärtsspirale einmal mehr und plötzlich ist Tempo 20 innerstädtisch das neue Maß aller Dinge. Wie wenig man offensichtlich darauf baut, dass ein solches Limit auch eingehalten wird, zeigt sich in Xanten. Dort wird Tempo 20 erlassen, damit die Menschen zumindest 30 km/h fahren. Denn bei Tempo 30 würden die meisten sowieso um die 50 fahren, sagt der dortige Bürgermeister. Von wissenschaftlicher Seite wird dies zudem bei allen damit verbundenen Problemen als „der richtige Weg“ bezeichnet. Nur, wer legt fest, was „richtig“ ist? Und wohin uns dieser Weg führt, ist – wie so vieles bei dieser Diskussion vollkommen unklar. Oder aber es ist vollkommen klar: Tempo 10, dann wird wirklich 20 km/h gefahren! Egal wie die Diskussion– weitergeht, Göttin Eris brauchte dann nicht mehr in Botox zu investieren zu ihrer glättenden Verschönerung.
Tiefere Abgründe, sowohl physikalisch als auch geistig wissenschaftlich, finden sich bei der Klimadebatte. Für den Einzelnen kaum noch nachvollziehbar werden praktisch täglich Meldungen – in welche Richtung auch immer – lanciert. Mal Katastrophe, dann Entwarnung, und schließlich mal abwarten. Die Sache mit den Fakten ist sehr komplex, die Vorhersagen um Größenordnungen komplexer. Wichtig ist aber, was bei den Menschen ankommt. Und da ist eine „schlingernde“ Informationslage für alle Beteiligten kontraproduktiv, wie man so schön sagt.
Die deutsche Regierung hat (noch?) nicht das Vertrauen der Bevölkerung durch kluge Entscheidungen gewonnen. Jedenfalls hat sie ihre Entscheidung nicht entsprechend kommunizieren können (oder wollen?). Aber warum ist das so? Auch der Graben zwischen der „normalen“ Bevölkerung und den Regierenden wird deutlich tiefer. Die Umfrageergebnisse sprechen eine deutliche Sprache. Die Bevormundung gerade im privaten Bereich hat ein Maß erreicht, das nicht mehr ohne Weiteres akzeptiert werden kann. Was darauf die „richtige“ Antwort ist, lässt sich kaum sagen. Aber auch hier bleibt als Ergebnis krasse Polarisierung festzustellen.
Schaut man sich das international an, so ist man konfrontiert mit einem Bild der Krisenherde weltweit. Wir schaffen es sogar, in Zeiten Gräben zu schaufeln, in denen wir sie dringend zuschütten sollten. Aber es sind nicht nur Auseinandersetzungen größerer Dimension, die uns in Abgründe schauen lassen, auch Einzelpersonen sind dazu fähig. Immer wieder dringen die schrecklichen Meldungen von Amokläufern durch die Presseticker. Wenig bekannt ist, dass das Wort „amok“ ursprünglich aus dem Malaiischen stammt und „außer sich vor Wut sein“ bedeutet. Schon im 17. Jahrhundert wurde von „ekstatischen Malaien“ berichtet, die wild um sich stachen. Eigentlich als militärische Taktik geplant, betrifft dieses Verhalten fast ausschließlich männliche Einzeltäter.
Gegen Einzeltäter auf der Straße vorzugehen, hat sich Italien als großes Ziel gesetzt. Die steigende Zahl von Verkehrstoten auf italienischen Straßen veranlasste die Regierung dazu, bis Ende des Jahres eine deutlich verschärfte Straßenverkehrsordnung zu beschließen. Vor allem Ablenkung und Drogen/Alkohol am Steuer stehen im Fokus. So verdreifacht sich die Strafe für Smartphone-Nutzung (bis 1.700 Euro). Schon ab dem ersten Verstoß ist dann der Führerschein bis zu zwei Monate weg. Wer innerhalb von zwei Jahren nochmals auffällig wird, hat mindestens drei Monate keinen Lappen und muss 2.600 Euro berappen.
Italien hat aber noch andere Probleme, nämlich vulkanischer Natur. Noch sind die Phlegräischen Felder nicht explodiert und auch Ätna, Vesuv und Stromboli sind noch in Wartestellung. Wenn sich da aber neue Gräben auftuen, hat das Auswirkungen auf ganz Europa. Island hat ja mit dem Eyjafjallajökull (mein Lieblingsname im Isländischen!) 2010 schon gezeigt, wo das (flugtechnisch) hinführen kann. Göttin Eris hätte ihren Spaß!
AUTOR
PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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Der Branchentreff" 2026
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