So ein Zufall!

<p>Kaum ein Begriff hat schon seit jeher für so viel Verwirrung oder besser Unklarheit gesorgt wie der des Zufalls. Schon Aristoteles beschäftigte sich in seiner „Physica“ mit ihm und legte den Grundstein für die bis heute anhaltenden Diskussionen darüber, was damit eigentlich genau gemeint ist.</p>

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Der wohlbekannte Meister Eckhart beschäftigte sich Ende des 13. Jahrhunderts bei seinem Studium in Köln mit der Logik des Aristoteles und prägte den deutschen Begriff des Zufalls, hergeleitet aus dem mittelhochdeutschen „zuoval“ („Anfall“) als Lehnübersetzung aus dem lateinischen accidens (sich ereignend).

Das Wort Zufall wird immer gerne dann bemüht, wenn für einzelne Ereignisse oder das gleichzeitige Auftreten mehrerer Vorkommnisse keine ursächlichen Verbindungen („Korrelationen“) festgestellt werden können. Das muss aber nichts heißen, denn häufig kennt man die Zusammenhänge gar nicht so genau, dass man direkte Verbindungen herstellen könnte. Die Wissenschaft, insbesondere die Mathematik, hat sich da lange schwergetan, dies exakter zu fassen, um schließlich die Disziplin der Stochastik (griech., Kunst des Vermutens) einzuführen.

Dabei hatten doch schon die Griechen und die Römer, ja sogar die Germanen, extra Gottheiten für den Zufall etabliert. Die griechische Schicksalsgöttin Tyche wachte über (un-)glückliche Fügungen und den Zufall. Häufig hatte sie den Knaben Plutos im Arm (nicht ihr Sohn und nicht zu verwechseln mit dem Unterweltchef Pluto), den Gott des Reichtums. Ihr römisches Pendant war die Göttin Fortuna, der man heute noch häufig begegnet. Abstrakter sahen das die Germanen mit dem aus heutiger Sicht nicht unproblematischen „Heil“.

Eigentlich gibt es wirklichen Zufall nur in der Quantenwelt. Der radioaktive Zerfall beispielsweise ist im Einzelfall zeitlich nicht vorhersehbar. Und es gibt (nach heutigem Verständnis) auch keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern, mit welcher Messung auch immer. Andererseits ist es ein großes Problem, künstlich Zufall zu erzeugen. Gibt man Menschen einfach die Aufgabe, eine komplett zufällige Folge von Einsen und Nullen aufzuschreiben (bei gleicher Häufigkeit), so neigen sie dazu, deutlich häufiger einen Wechsel als eine Wiederholung zu wählen. Längere Sequenzen von Einsen oder Nullen allein sehen nicht nach Zufall aus, damit verbinden sie also Zufall mit Unordnung und damit Wechsel.

Für Simulationen von Wetter, Verkehr, Waldbränden oder der Ausbreitung von Pandemien benötigt man Zufallszahlen, um die ganzen Einflüsse von innen und außen irgendwie zu berücksichtigen. Autofahrer kennt man nur im Mittel, aber nicht alle Individuen. So müssen sie sich halt zufällig verhalten. Und der Computer, auf dem die Simulation läuft, kennt per se keinen Zufall. Er ist ein treuer und deterministischer Diener. Mit ausgefuchsten mathematischen Tricks muss man ihm beibringen, zumindest „Pseudozufallszahlen“ zu erzeugen. Dies ist eigentlich eine Wissenschaft für sich und es gibt viele Ergebnisse, die aufgrund nicht wirklich zufälliger Zahlen verfälscht oder einfach falsch sind.

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Ein prominentes Beispiel für das Spiel mit Abhängigkeiten von Ursachen ist die Klimaentwicklung. Hier wird eine direkte Einwirkung des Menschen auf die Temperatursteigerungen und die Unwetterhäufungen aus naheliegenden naturwissenschaftlichen Argumenten abgeleitet. Aber es handelt sich auch dabei nur um Wahrscheinlichkeiten, was Kritiker zum Anlass nehmen, die Argumente dadurch zu entkräften. Die elementarste Frage der Menschheit aber ist und bleibt, ob das Leben auf der Erde das Ergebnis von zufälligen Prozessen ist oder einer unbekannten „Regie“ folgte. Als Jacques Monod (Buch: Zufall und Notwendigkeit, 1970), Nobelpreisträger 1965, mit der These aufwartete, das Leben sei nur ein unwahrscheinlicher Zufall, war die Welt entsetzt. Die Diskussionen über den Darwinismus halten bis heute an. Zufall ist da auf jeden Fall im Spiel (!) gewesen, nur wie groß war sein Einfluss

Wie schnell einen die Intuition in die Irre führen kann, zeigt sich an ganz einfachen Beispielen. Sehr häufig ist da ein Würfel im Spiel. So auch bei der einfachen Frage, wie häufig man im Mittel würfeln muss, um eine Sechs zu bekommen. Da wird dann schnell rumgedruckst und als Antwort kommt dann zwischen drei- und viermal, da es ja sechs Zahlen gibt. In Wirklichkeit sind es aber genau sechs Würfe, was dann Ungläubigkeit zur Folge hat. Einfach mal ausprobieren hilft da weiter. Wären es nämlich weniger als sechs, würde die Sechs häufiger fallen als die anderen fünf Zahlen.

Eine für den Verkehr relevantere Fragestellung ist die des sogenannten Wartezeitparadoxons. Im täglichen Leben begegnet es einem fast überall. Einfaches Beispiel: der öffentliche Verkehr. Fährt beispielsweise eine Straßenbahn genau nach Plan und kommt exakt alle zehn Minuten, so ist die mittlere Wartezeit, wenn man einfach zufällig zur Haltestelle geht, ohne auf den Fahrplan zu schauen, genau fünf Minuten. Kommt sie aber nur im Schnitt alle zehn Minuten, sagen wir mit der Wahrscheinlichkeit 1/10 in der nächsten Minute, so steigt die Wartezeit bei zufälliger Ankunft auf sage und schreibe zehn Minuten. Das gilt sogar dann, wenn man nach dem Fahrplan zur Haltestelle geht. Anders formuliert ist das auch als Grund interpretierbar, warum man immer in der längsten Schlange steht. Denn je länger die Schlange, desto größer die Chance, da hinten anzustehen (denn sie existiert ja auch entsprechend länger). Man muss nicht betonen, dass die Schlange auch einfach der lange Stau sein kann, in den man hineinfährt. Navigationsgeräte versuchen eben genau dieser Falle ein Schnippchen zu schlagen, für den Nutzer wäre das dann sogar ein Schnäppchen. Ob und wie das gelingt, kann ja jeder selbst für sich entscheiden. Aber die Stochastik interessiert das nicht.

Sehr bekannt geworden ist ebenso die Frage, wie viele Menschen man einladen muss, damit die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens zwei der Anwesenden am selben Tag Geburtstag haben, größer als 1/2 ist. Dabei denken die meisten dann schnell an immens große Aufläufe. Aber es sind leider nur 23 Personen. Für die absolute Sicherheit müsste man natürlich 366 Personen einladen (wären da nicht die Schaltjahre ...).

Ein ganz besonders krasses Beispiel für das „Aushebeln“ von Zufall, in diesem Fall von unglaublich geringer Wahrscheinlichkeit für das Erhoffte, ist das Problem der 100 Gefangenen. Es geht zurück auf den dänischen Informatiker Peter Bro Milterson, der es in einer etwas abgewandelten Form 2003 erdachte. Wie häufig bei diesen Gedankenspielen ist das Setting ganz einfach, aber das Drumherum „virtuell“ dramatisiert. Ein (gnädiger?) Gefängnisdirektor gibt 100 zum Tode verurteilten durchnummerierten Gefangenen eine letzte Chance zur Begnadigung. Dazu hat er in einem Raum einen Schrank mit 100 ebenfalls nummerierten Schubladen aufgestellt, wo sich in jeder Schublade ein Zettel mit einer Zahl zwischen 1 und 100 befindet. Keine Zahl kommt mehrfach vor. Nun dürfen die Gefangenen nacheinander beliebig gewählte 50 Schubladen öffnen und wieder schließen. Finden alle (!) Gefangenen bei dieser Prozedur ihre eigene Nummer, so werden alle begnadigt. Gefangene, die die 50 Schubladen schon geöffnet haben, müssen den Raum verlassen ohne Kommunikation mit den nachfolgenden.

Die direkte Analyse ist einfach und niederschmetternd. Denn jeder Einzelne schafft sein Ziel nur mit der Wahrscheinlichkeit 1/2, da er nur genau die Hälfte der Schubladen öffnen darf. Da aufgrund fehlender Kommunikation alle Öffnungsprozesse unabhängig voneinander ablaufen, bleibt am Ende als Begnadigungswahrscheinlichkeit ein Produkt von 100 Faktoren 1/2, das ist weniger als Eins zu einer Quintillion (eine Eins mit dreißig Nullen!). Aussichtslos? Nein, mit einer einfachen Strategie gibt es eine reelle Chance für die Verurteilten. Die besteht nämlich darin, zuerst die Schublade mit der eigenen Nummer zu öffnen, dann die mit der Nummer, die sich darin befindet, und so weiter, bis eventuell die eigene Nummer auftaucht. Mit dieser bekannten „Zyklusfolgestrategie“ steigt die Erfolgschance auf satte 31 Prozent. Das liegt, einfach gesprochen, daran, dass es für einen Misserfolg einen Zyklus, also eine geschlossene Zahlenfolge, mit einer Länge von über 50 geben muss, bei der keine Zahl wiederholt wird. Und das ist tatsächlich sehr unwahrscheinlich.

Ganz allgemein über extrem unwahrscheinliche Ereignisse (also beispielsweise, dass wir eine intakte Infrastruktur mit „heilen“ Brücken haben) gibt es eine eigene Theorie, nämlich die des Schwarzen Schwans. Die Historie dazu ist recht facettenreich. Zurück geht die Sache mit dem Schwarzen Schwan auf den römischen Satiriker Decimus Iunius Iuvenalis, kurz Juvenal, der um 100 n. Chr. gelebt hat. In 16 Satiren machte sich dieser mit Spottversen lustig über die unterschiedlichen Gesellschaftszustände der Römer zu jener Zeit und gab damit auch Einblicke in das damalige Alltagsleben. Er selbst ist heute längst nicht so bekannt wie einige seiner Sinnsprüche wie „panem et circenses“ (Brot und (Zirkus-)Spiele), um die Bevölkerung ruhigzustellen, oder „mens sana in corpore sano“ (ein gesunder Geist in einem gesunden Körper). Letzteres wird häufig missverstanden, denn das Zitat ist verkürzt wiedergegeben und es fehlt, dass man allenfalls um gesunden Geist und Körper beten möge, die Götter aber nicht mit allem möglichen belästigen solle.

Auf den Schwarzen Schwan kam er in Bezug auf treue Ehefrauen, denn diese seien in allen Ländern so selten wie der Schwan. In der Tat kannte man damals keine Schwarzen Schwäne in Europa, auch Trauerschwäne genannt, denn das natürliche Ausbreitungsgebiet ist Australien. In Neuseeland wurde er angesiedelt, in Europa gibt es nur wenige ausgesetzte oder gehaltene Exemplare. Juvenal sprach in anderem Zusammenhang auch von weißen Raben, die häufiger seien als „solche Glückspilze“. Tatsächlich gab es Weißbunte Raben (Unterart der Kolkraben) auf den Färöern bis Mitte des 20. Jahrhunderts, heute gelten sie allerdings als ausgestorben.

Erst 1687 stieß der niederländische Seefahrer Willem de Vlamingh in Australien auf Schwarze Schwäne. Seitdem wurden sie in der englischen Sprache als „black swan“ zum Sinnbild für extrem unwahrscheinliche Ereignisse, die aber trotzdem nicht unmöglich sind. Populär gemacht hat das der im Libanon geborene Essayist Nassim Nicholas Taleb, der auch mal Finanzmathematiker war und sich viel mit Statistik und Risiko beschäftigt hat. Er hat eine fünfteilige Buchserie, eine „Pentalogie“, namens Incerto („unbestimmt“)“ geschrieben, darunter „Narren des Zufalls“ (2001/2005), worin er darüber spekuliert, dass nicht wir, sondern der Zufall unser Leben bestimmt, und eben auch „The Black Swan“ (2007/2010). In seiner Klassifikation kommt er auf drei Kriterien für die dunklen Vorkommnisse, die erfüllt sein müssen. Erstens müssen es echte Ausreißerereignisse sein, die jenseits jedes Erwartungshorizontes liegen, und nichts in der Vergangenheit deutete auf ihr Auftreten hin. Zweitens müssen die Auswirkungen extrem und sehr schwer sein. Und drittens, und da wird es interessant, soll das Auftreten durchaus im Nachhinein erklärbar sein. Es steht dann natürlich die Frage im Raume, warum man das nicht vorher schon gewusst hat.

 

AUTOR

PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.

Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

 

 

 

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