Beifahrer Angst

<p>Eigentlich begleitet sie uns ständig und überall hin: die Angst. Dabei ist die Frage vor was fast zweitrangig. Denn irgendetwas findet sich immer. Und sei es nur die ungewisse Zukunft mit der überbordenden Informationsflut über künstliche Intelligenz in Form von ChatGPT und gleichgesinnten (!) Genossen. So ist eigentlich kein Schreibender (aus Existenzangst?) mehr davor gefeit, hin und wieder die algorithmischen Plappermäuler nach ihrer Meinung zu fragen (auch nicht der Kolumnist!). Bei dem, was man da zu hören (oder besser zu lesen) bekommt, kann einem häufig tatsächlich angst und bange werden.</p>

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Klar ist jedenfalls, dass Angst eine spezielle Form von Emotionen ist, die in vielen Fällen schwer zu erklären und auch zu bekämpfen ist, aber immense Auswirkungen haben kann. Einer markanten Auswirkung verdankt das Wort Angst schließlich auch seine Herkunft. Denn es stammt (unter anderem) von den Verben „agchein“ (griechisch) und „angere“ (lateinisch) ab, die beide so viel wie „würgen“ oder „die Kehle zuschnüren“ bedeuten. In dem Wort steckt ja auch die Verwandtschaft zu „eng“ oder „Enge“, was man bei einer entsprechenden Rachenentzündung nachvollziehen kann. Nicht umsonst spricht man dann äußerst passend von einer Angina!

Geht man noch einen Schritt weiter Richtung Überinterpretation, kann man das Wort Angst in drei Bestandteile zerlegen: Dem anfänglichen wahrnehmenden Aufschrei „Ah!“ folgt das gutturale „-ng-“, welches einem beim Aussprechen praktisch die Luft abschnürt, und das den Druck ablassende „-st“, das den Abschluss bildet. Bange ist übrigens ein altes Synonym für Angst.

Auch die Engländer haben wortwörtlich „Angst“, allerdings in dem eingeschränkten Sinne von genereller Existenzangst. Viele europäische, insbesondere nordische Sprachen, kennen das Wort Angst oder geringfügig abgewandelte Formen. Dabei ist dieses allgemeine Angstgefühl psychologisch als Eigenschaft zu sehen, recht unbestimmt und nicht auf eine aktuell direkt drohende

Gefahr gerichtet. Inhaltlich handelt es sich dabei in unserer Zeit um Dinge wie Atomkraft, genetisch veränderte Lebensmittel, Arbeitslosigkeit, um eventuell drohende Krankheiten wie beispielsweise Krebs oder Demenz. Angst gibt es auch vor neuen Ideen – aus welchem Ministerium auch immer. Oder einfach vor immer mehr Stau aufgrund immer weiterer maroder Brücken. Das Unangenehme dabei ist nur, dass man das Gefühl, bewusst oder unbewusst, ständig mit sich herumträgt. Das kann dann auch zu Pulsbeschleunigung, vermehrtem Schweiß, ja sogar Zittern oder, man wagt es kaum zu sagen, verstärkter Blasen- und Darmtätigkeit führen. Insbesondere auf Letzteres soll hier nicht näher eingegangen werden. Aber was drohende Staus so alles anrichten können ...

Für unsere frühen Vorfahren war dagegen eine andere Form von Angst überlebenswichtig: die Furcht. Sie kommt bei wahrnehmbaren äußeren Gefahren ins Spiel. Insbesondere schützt sie in gefährlichen (oder als solche empfundenen) Situationen davor, ein allzu großes Risiko einzugehen. Damals kamen die Gefahren aus der direkten Umgebung, als Säbelzahntiger oder Braunbär. Da hieß es dann nur noch: nix wie weg. Doch dafür hatte die Natur dann biologisch einiges als Unterstützung parat, was uns heute nicht mehr unbedingt hilft.

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Das Zentrum der dafür im Gehirn zuständigen Abteilung für „Emotionsverarbeitung“ ist die Amygdala (lateinisch für Mandel(kern)). Sie besteht aus zwei mandelförmigen Strukturen, die sich im Vorderteil des jeweiligen Temporal- oder Schläfenlappens befinden. Dort werden auf der Grundlage emotionaler Auswertungen von Wahrnehmungen entsprechende vegetative Reaktionen ausgelöst. Davon betroffen sind dann beispielsweise Atmung und Kreislauf. Und die Amygdala reagiert insbesondere auf Angstsituationen.

Was passiert da nun genau? Erst einmal reagiert der Körper mit einer verstärkten Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin aus den Nebennieren, was den Blutdruck und die Herzfrequenz steigen lässt und damit den Sauerstofftransport im Blut erhöht. Damit wird Blut verstärkt in die Muskulatur gepumpt, um besondere Leistungen möglich zu machen. Es werden dann in der Tat olympiareife Kräfte freigesetzt, die unter normalen Bedingungen nicht abrufbar wären. Das wird in der frühen Geschichte zum Überleben auch unbedingt notwendig gewesen sein. Nach Darwin hatten eben nur die schnellsten Exemplare mit Turbo-Booster eine Überlebenschance. Heute hilft diese Funktion tatsächlich nur bedingt, die aktuellen ängstigenden Anforderungen zu erfüllen.

Weiterhein wird von verstärkter Blutgerinnung berichtet. Der Sinn dieser Blutverdickung wird evolutionstechnisch darin gesehen, dass die frühen Menschen auf der Flucht nicht sehr sorgsam mit ihrem Körper umgegangen sind und die unvermeidlichen Verletzungen, die sie sich beim kopflosen Rennen durch die Natur zuzogen, nicht zu stark bluteten. Eine durchaus sinnige Einrichtung, für uns heute aber eher zweitrangig. Auch zu erwähnen wäre die Erweiterung der Pupillen zum besseren Erkennen der mutmaßlichen Gefahr. Zudem ist von verstärkter Schweißbildung an Händen und Füßen die Rede. Wozu sollte das mal gut gewesen sein? Zum schnelleren Erklimmen von Bäumen, wenn die Sache mit dem Weglaufen keinen Zweck mehr hatte. Dazu muss aber erst einmal ein Baum in Reichweite sein. Einfach war das Geschäft trotz biologischer Unterstützung bestimmt nicht. Und heute würde doch das schnelle Tippen auf dem Smartphone auf der Suche nach einem Ausweg eher Hilfe versprechen.

Die härteste (oder kurzfristigste) Form der Angst ist wohl der Schreck oder die „Schrecksekunde“. Gerade beim Autofahren aufgrund der schnellen Dynamik ist dies sicherlich jedem Autofahrer schon widerfahren. Für einen kurzen Augenblick wird man orientierungslos und erstarrt einfach („Schockstarre“), wobei eigentlich eine schnelle Entscheidung gefordert ist. Das plötzliche Auftreten eines Hindernisses oder einfach einer Nebelwand erfordert trotz des Schrecks eine sofortige Reaktion.

In so einer Situation passiert medizinisch ebenfalls einiges mehr. Denn nicht umsonst kennt man die umgangssprachliche Redewendung, dass einem förmlich „das Blut in den Adern gefriert“. Tatsächlich kann die plötzliche starke Angst wiederum Blut zum Gerinnen bringen und damit die Gefahr einer Thrombose oder eines Herzinfarktes erhöhen. In diesen Fällen ist die Wahrnehmung der Umgebung stark eingeschränkt, weil keine Zeit für eine Situationsanalyse bleibt. Nach einer kurzen Abwesenheit muss nach der Rückkehr in die Realität schnell gehandelt werden. In vielen Fällen eine zu große Herausforderung. Beispiel gefällig: Der Blick wendet sich vom Smartphone auf den vor einem plötzlich stark bremsenden Lkw. Viele schwere Unfälle sind der Schrecksekunde nach Ablenkung geschuldet.

Die Angst im Auto stellt sich in zweierlei Hinsicht dar. Einerseits ist da der Fahrer, natürlich, andererseits gibt es den Beifahrer. Dazu haben wir vor vielen Jahren umfangreiche Untersuchungen mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), früher bekannt als Kernspintomografie, angestellt. Dabei stellte sich der Beifahrer als deutlich angstanfälliger heraus als der Fahrer. Denn der kann zur Führung des Fahrzeugs außer verbalen Attacken nichts beitragen. Der Beifahrer war in der Studie geistig häufig abwesend, gedanklich einfach woanders unterwegs.

Beim Fahrer sieht die Sache am Ende auf jeden Fall ganz anders aus. Die verantwortungsvolle und vor allem sichere Bewegung des Fahrzeugs ist immer wieder eine Herausforderung. Aber gerade da setzt dann auch eine spezielle Angst an: die Amaxophobie („Fahrangst“). Ihr Name leitet sich vom griechischen „amaxos“ ab, was übersetzt „(Streit) Wagen“ bedeutet. Es gibt sie wirklich und das weit verbreitet: die Angst vor dem Autofahren. Man sollte dies nicht herunterspielen, es handelt sich tatsächlich nicht um ein „Nischenphänomen“.

Über die genaue Anzahl der Betroffenen können nur Schätzungen gemacht werden, belastbare Studien dazu gibt es wohl noch nicht. Es scheint sich aber herauszukristallisieren, dass deutlich mehr Frauen als Männer davon betroffen sind, von einem Verhältnis von sechs zu eins ist da die Rede. Wissenschaftler sagen allerdings, dass die spezifische Fahrangst zu den drei häufigsten Phobien gehört, neben der Angst vor Spinnen und der Höhenangst. Nach einer Forsa-Umfrage von 2016 sind rund neun Prozent von Angst beim Autofahren betroffen, was rund sechs Millionen Menschen in Deutschland bedeuten würde. Der ADAC geht eher von einer Million aus.

Es vermischen sich bei der Fahrangst ganz unterschiedliche Gefühle. So kann es einfach die Angst vor dem Auto als Maschine sein oder die Angst vor dem Fahren an sich als Überforderung mit der eventuellen Konsequenz eines Unfalls. So haben viele Menschen Angst vor Autobahnfahrten, da dort häufig hohe Geschwindigkeiten gefahren werden und man praktisch zur Weiterfahrt gezwungen ist. Einfach mal anhalten geht dann eben nicht. Ein Gefühl des Gefangenseins kommt auf. Besonders wenn man im Stau steht und nicht mehr von der Stelle kommt (oder im Winter gar nichts mehr geht und man zwangsweise im Auto übernachten muss).

Als Nebenbemerkung sei hier erlaubt, dass gängige Studien zum Tempolimit auf Autobahnen davon ausgehen, eine Begrenzung beispielsweise auf 120 km/h würde viele zu einem Umstieg auf die Bahn bewegen, da kein Zeitvorteil mehr gegeben wäre. Umgekehrt wird allerdings ein Schuh draus, denn dann wären die zuvor Abgeschreckten wahrscheinlich plötzlich auch mit auf der Bahn, also mehr Verkehr und mehr Stau als vorher!

Andererseits ist der Stadtverkehr hochkomplex, was nicht zuletzt die Programmierer automatisierter Fahrzeuge zu spüren bekommen. Da ist es nicht verwunderlich, dass Menschen vor den vielfältigen Herausforderungen kapitulieren und einfach diese Bereiche meiden. Das aber ist ein Circulus vitiosus, ein klassischer Teufelskreis, der schließlich mit der kompletten Einstellung der Fahrtätigkeit endet. Der Grund ist dann als „Angst vor der Angst“ einzustufen. Das ist dann der sich selbst verstärkende Mechanismus dahinter.

Die Herkunft der Fahrängste ist, wie so häufig, nicht wirklich klar. Einmal ist es genetisch durch Vererbung möglich, besonders sensibel auf komplexe Situationen zu reagieren. Aber genauso sind traumatische eigene Erlebnisse (Beobachten eines schweren Unfalls), schlimme Erfahrungen (mit anderen Verkehrsteilnehmern) oder auch nur äußere Einflüsse durch dramatisierende Erzählungen sowie verunsichernde Meldungen in den Medien als Auslöser denkbar. Fatal ist, dass dies bei Menschen plötzlich zu Panikattacken mit entsprechenden symptomatischen Folgen (Herzrasen, Schweißausbruch, schnelles Atmen) führen kann, die vorher damit überhaupt nicht konfrontiert waren.

Stresssituationen gibt es ständig im Verkehr, seien es (schlecht eingerichtete) Baustellen, lange Tunnelfahrten (17 Kilometer Gotthard), schlechtes Wetter mit kaum Sicht, dicht auffahrende Lkw oder auch nervende Beifahrer. Die sind allerdings eben auch selbst oft von Fahrangst betroffen. Zudem wird die Lage dadurch erschwert, dass auch anders gelagerte Phobien und Ängste sich beim Autofahren bemerkbar machen (können). Das ist geradezu ein Giftcocktail an Angstzutaten. Da treffen sich die waren Herrscher über die emotionalen Druckmittel: Agoraphobie („agora“, griechisch Marktplatz, die Angst vor großen Plätzen), ihr Gegenpart, die Klaustrophobie bei räumlicher Enge, die Höhenangst, die soziale Phobie (Angst vor dem Versagen vor anderen) oder die schon erwähnten Panikattacken. Die StVO gibt hier für die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen nur vor, dass die „notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt“ sind. Da bleibt im Nachgang viel Auslegungsspielraum.

Die Sprache und die Literatur haben sich dem Thema natürlich schon lange angenommen. Wer kennt nicht das Buch „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ (1970) von (Nobelpreisträger) Peter Handke, 1972 verfilmt. Der Inhalt hat nicht viel mit Fußball zu tun, denn eigentlich hat auch der Schütze mehr Angst zu versagen als der Torhüter. Der Titel hat aber ein Eigenleben begonnen und muss seither als eine Art Synonym herhalten.

Von den Eskimos sagte man einmal, sie hätten 100 Worte für Schnee, was sich am Ende als falsch herausstellte, es waren faktisch nur zwei. In der Sprache der Maori, deren polynesische Vorfahren vor über 6.000 Jahren den pazifischen Raum eroberten und später dann auch Neuseeland besiedelten, gibt es wohl tatsächlich 50 Hauptbegriffe für verschiedene Ängste. Aber die Fahrangst gehört bestimmt nicht dazu.

 

AUTOR

PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.

Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

 

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