Autovision

In unregelmäßigen zeitlichen Abständen kommen seit Anbeginn der motorisierten Fortbewegung neue automobile Zukunftsvisionen auf den medialen Weltmarkt und werden dort heute aufgrund der globalen Vernetzung unvermittelt und schonungslos kontrovers diskutiert. Getriggert wird dieser Prozess maßgeblich durch schon erfolgte oder zumindest kurz- oder mittelfristig bevorstehende (außerordentliche) technische Innovationen. Dabei interessiert der „Realitätsfaktor“ häufig weniger als die hoffnungsgestützte Zukunftsprojektion. Und davon gibt es reichlich.

Autovision
Autovision

1 /2

Autovision
Autovision

PDF Download

Diese Innovationen sollen letztendlich den (aus physikalischer Sicht minimalen und daher als Analogie vollkommen unangemessenen) „Quantensprung“ in der Mobilität bewirken. Dazu gehörten mal die Elektromobile als ökologische Hoffnungsträger, welche die Fantasie der Umweltverbesserer befeuerten. Aktueller Stand: Anfang 2016 waren 25.500 reine Elektriker zugelassen, Anzahl an Ladestationen 2017: 2.900 mit 6.500 Ladepunkten (also Anschlüssen), davon 230 Schnellladepunkte. Die eine Million Elektros bis 2020 sollten bei der Geschwindigkeit also eigentlich kein Problem sein (zumal die Zahl der Neuzulassungen 2016 um 7,7 Prozent rückläufig war und zudem auch noch viele einfach ins Ausland verschwinden). Ehrlicherweise sollte man aber erwähnen, dass der Januar 2017 sich bei 1.323 Neuzulassungen mit einem merk(e)lichen Wachstum da deutlich freundlicher zeigt.

Wie sehr gerade jungen Menschen die ökologische Zukunft unseres Planeten am Herzen liegt, zeigt das Start-up-Unternehmen „Sono Motors“ von zwei Anfang-Zwanzigern, die mit dem „Sion“ ein solargetriebenes E-Fahrzeug schon demnächst an den Markt bringen wollen. Eine Vollladung per Sonne dauert dann allerdings so zwei bis vier Tage, Reichweite bis 250 Kilometer. Jedoch soll die Ladung auch über eine normale Station innerhalb einer halben Stunde möglich sein. Besonderer Gag ist allerdings Moos im Innenraum, das durch seine Mikroorganismen Feinstaubpartikel binden soll. Warum ist diesbezüglich eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen, ein „Moos-Jacket“ in den Markt wachsen zu lassen? Dann hat man immer frische, unbelastete Luft unter der Nase …

Die Geschichte der Fantasie der Zukunft im Verkehr ist im Übrigen gar nicht so fantasievoll, wie man sich das gemeinhin vorstellt. Schaut man sich die Visionen der historischen Verkehrspropheten, so sind zwei wirklich über Jahrzehnte wiederkehrende charakteristische Merkmale deutlich auszumachen: Autos, die fliegen können, und (die dafür eigentlich nicht notwendigen) Flügeltüren. Wieso diese Szenarien so reizvoll sind (oder waren), bleibt zukünftigen Geschichtsschreibern vorbehalten.

Die Sache mit den Flügeltüren hat Tesla, nach vielen bekannten Vorgängermodellen der Automobilgeschichte, ja schon mit dem Model X beantwortet. Zumindest die hinteren Sitzreihen kommen in den Genuss der sich nach oben bewegenden Türsegmente. Das scheint dann aber mehr Showcharakter zu haben, lässt man Fahrer und Beifahrer schließlich doch „klassisch“ ein- und aussteigen.

Bei den „Flugautos“ zeigt sich dann doch Bewegung am Horizont, natürlich nach oben! Spätestens 2018 werden am Himmel die wie auch immer gearteten Fahr- und Flugvehikel an den (ungewissen) Start gehen. Beispielhaft sei hier die niederländische Firma PAL-V International B.V. genannt, die auf diesem Weg (Flug?) schon sehr weit fortgeschritten ist (PAL-V steht übrigens für „Personal Land and Air Vehicle“). Die meisten dieser Konzepte leiden unter der Lastigkeit in Bezug auf eine Funktion: entweder mehr Fahrzeug oder mehr Flugzeug. Bei dem dreirädrigen fahrtauglichen Helikopter PAL-V handelt es sich nun um ein „Fortbewegungsgerät“, das theoretisch aus dem Stand aus dem Stau herauf starten könnte. Es müssten „nur“ die Rotorblätter und das Leitwerk ausgeschwenkt werden und schon kann es los-, sorry, hochgehen.

newspaper_img

Aktuelles Magazin

Ausgabe 2/2017

newspaper_img

Sonderausgabe Elektro

Das neue Jahresspecial Elektromobilität.

Beleuchtet alle Aspekte der batteriebetriebenen Mobilität im Unternehmen

Berappen muss man für den Spaß zwischen 300.000 und 500.000 Euro, ist es dann ja auch wohl wert. Bis 2019 sollen immerhin hundert Exemplare davon in die Luft gehen. Aber halt: Wie sieht es mit den dazu notwendigen Scheinen aus? Gar nicht so schlecht, Führerschein und Privatpilotenschein würden schon reichen. Allerdings wird bei uns immer noch ein Flugplatz zum Starten benötigt. Ist doch ganz einfach: Die Autobahnen werden kurzerhand zu Flugplätzen deklariert! Eine erste große Aufgabe für die womöglich ab 2021 aktiv werdende bundesweite Infrastrukturgesellschaft.

Andere Konzepte brauchen eine gewisse freie Fläche zum Start, halt mehr Flieger als Fahrer. Doch da bietet sich ja gerade die erst kürzlich beschlossene Änderung des § 11 der StVO an, denn was eignet sich besser als die Rettungsgasse für eine Startbahn! Schon bei „Schrittgeschwindigkeit“ (und nicht erst bei stehendem Verkehr) ist diese zu bilden. Beste Aussichten also für einen frühen Start! Aber Vorsicht: Der Gesetzgeber ahndet den Missbrauch der Rettungsgasse mit einem Bußgeld von 100 Euro und einem Zusatzpunkt.

Es gibt sogar ernsthafte Stimmen, die den Flugmobilen kurzfristig mehr Chancen einräumen als den Autonomen. Man kann die Konzepte natürlich auch kombinieren, schließlich hat der „Autopilot“ da seine ursprünglichen Wurzeln. Und man kann so wundervoll die Fantasiebilder der Zukunftsstädte an sich vorbeifliegen lassen. Mit Höhen von 450, ja sogar 600 Metern, sollen „vertikale Städte“ mal den Lebensraum schaffen, den wir am Boden nicht mehr haben (werden).

Schon im Jahr 2100 soll die erste Hochstadt in der marokkanischen Wüste stehen und sich selbst mit Energie versorgen nach der Gleichung: viel Wüste – viel Sonne – viel Energie. Ob es dazu kommt, wissen wir heute natürlich nicht, man rechnet denn auch noch mit rund fünfzig Jahren Entwicklungsarbeit. Interessant sind dabei aber schon gewisse Seitenaspekte. Damit man nicht die Abgase der ganzen Flugautos abbekommt, soll man sich möglichst hoch einnisten. Das ist doch mal richtig in die Zukunft gedacht!

Wir dagegen als am Boden jämmerlich herum kriechendes Volk von mobili- AUTOR tätsmäßig ewig Gestrigen müssen uns mit ganz anderen, profanen Themen herumschlagen. Selbst die Ameisen würden sich über uns schlapp lachen (wenn sie denn nur könnten!), organisieren sie doch ihre Haufen in für uns unerreichbarer Effektivität (und das bei fehlendem Großhirn, dazu sind nur ein paar Nervenknoten vonnöten).

Alljährlich wird uns zahlenmäßig sehr eindrücklich vor Augen geführt, wie sehr sich unsere Staulage weiter verschlechtert hat. Da kommen dann umfangreiche Studien von INRIX („Traffic Scorecard“), TomTom („Traffic Index“), dem ADAC („Staubilanz“) oder der Bundesanstalt für Straßenwesen („Straßenverkehrszählung“) auf den Markt und lassen einen erschreckten Autofahrer nicht im Regen (vielleicht auch), nein im Stau stehen. In der schlimmsten Stadt Deutschlands (München) sind es nur während des Berufsverkehrs laut INRIX 49 Stunden pro Jahr Rumstehen. Der ADAC meldete für die Autobahnen gar knapp 1,4 Millionen Kilometer Stillstand, aufgeteilt in fast 700.000 Staus. Die Studien unterscheiden sich zwar im Detail, aber einig ist man sich über die (wie überraschend) staureichste Strecke Deutschlands: die A3 bei Köln zwischen Kreuz Leverkusen und Dreieck Heumar. Sieht man sich die Entwicklung über die Jahre an, so fragt man sich natürlich, wohin das mal führen soll (außer in die Luft eben).

Man bekommt dann auch schnell den gar nicht so falschen Eindruck, dass die ganzen Verkehrsprojekte und -konzepte letztendlich gar nichts Messbares gebracht haben. Bei genauerer Beschau wird einem dann noch Weiteres klar. Nicht die böse Technik hat versagt, nein der Mensch, der sie benutzen soll. Und so hat die Politik, wie immer mit Pauken und Trompeten bei möglichen Umwälzungen am Start (aber bitte Deutschland zuerst!), die Hoffnung auf den sich weiter entwickelnden Menschen ad acta gelegt und setzt voll auf die Roboter. Emotions- und wunschlos verrichten sie ihre Arbeit im Dienste des Menschen.

Sicherheit geht natürlich vor. Die technische Sensorik ist der menschlichen in der Tat in einigen Bereichen überlegen, man denke nur an die Reaktionszeit. Allerdings muss da auch die nachgeschaltete Software-Algorithmik mitziehen. Und da hat der Mensch dann häufig die Nase (!) vorn. Selbst bei Ampeln gibt es noch „Erkennungsprobleme“, wie gerade bei Uber durch Mitarbeiter ruchbar wurde.

Wie es in der Stadt der Zukunft zugehen wird, kann man natürlich nur erahnen. Es passiert jedenfalls immer mehr ohne menschliches Zutun. Und wenn der Mensch schon etwas tut, dann automobiltechnisch ohne viel Anstrengung, heißt im Klartext: ohne auszusteigen. Begonnen damit hat mal damit im Jahre 1930 die Grand National Bank von St. Louis, und zwar mit dem „Drive-through“ zum Geldabheben.

Man hat sich mittlerweile daran gewöhnt, Fast-Food-Erzeugnisse bequem ins Auto gereicht zu bekommen, McDonalds startete 1975 in Sierra Vista, Arizona, damit. Aber auch Bäckereien, Apotheken, Baumärkte oder Getränkehändler nutzen diesen Komfort für den Fahrer. Interessant ist auch die Möglichkeit, im „Vorbeifahren“ zu heiraten, was in Las Vegas sogar auf Deutsch möglich ist.

Neu dagegen ist aber der legale (!) Verkauf von Cannabis auf diese Art in Parachute, Colorado. Illegal wird diese Methode wahrscheinlich noch öfter angewandt. Selbst in der strengen Schweiz, nämlich in Zürich hinterm Bahnhof, gibt es seit 2013 sogenannte Sexgaragen, für das schnelle Vergnügen unterwegs. Es geht aber noch abgedrehter: Selbst Friedhöfe kann man in den USA mit dem Auto befahren, ja sogar Bestattungen aus dem Auto heraus erledigen. Selbstverständlich kann man auch im Auto wählen fahren, „Drive-in-Vote“ nennt sich der Spaß. Fehlt nur noch, dass das alles auch noch autonom geschieht. Da wäre ein Blick hinter den Züricher Bahnhof bestimmt interessant …

Ob das ganze „Reinfahren“ aber die Zukunftsprobleme der Städte löst, lässt sich dann doch trefflich bezweifeln. Obwohl ja eigentlich damit eine Menge Parkplätze eingespart werden, einer der großen Engpässe in den Metropolen. Hamburg hat Anfang dieses (wohlgemerkt nicht diesen!) Jahres die Parkgebühren drastisch (bis zu 66 Prozent) angehoben. Parksuchverkehr ist eine üble Sache. Die Autonomen könnten einen absetzen und wieder verschwinden. Und im Stau stehen sie dann allein!

Just zur Vor-Osterzeit (oder besser gesagt: der Nach-Karnevalszeit) kommen zur Überbrückung der langweiligen Fastenzeit aus den Reihen der Politik spannende neue Vorschläge. So ist von Seiten der Grünen auf einmal der nicht mal neue Begriff des „Autofastens“ ins Feld geführt (oder besser: auf die Straße gefahren) worden. Vor 20 Jahren hatten die Kirchen damit schon mal geworben: 40 Tage von Aschermittwoch bis Ostern aufs Auto verzichten. Immerhin kann man dann ja mal ohne Probleme einen trinken (fahren). Allerdings ist ja auch Fastenzeit und auf alles verzichten …

 

AUTOR

PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.

Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein- Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

0 Kommentare

Zeichenbegrenzung: 0/2000

newspaper_img

Aktuelles Magazin

Ausgabe 2/2017

newspaper_img

Sonderausgabe Elektro

Das neue Jahresspecial Elektromobilität.

Beleuchtet alle Aspekte der batteriebetriebenen Mobilität im Unternehmen

countdown-bg

Der nächste „Flotte!
Der Branchentreff" 2026