Der „Bundesverkehrtwegeplan“ 2030
Irgendwann in grauer Vorzeit, genauer gesagt Mitte der 1960er-Jahre, dämmerte es den Obrigen, dass man vielleicht nicht nur einfach einzelne Verkehrswege baut, sondern die verschiedenen Vorhaben untereinander abstimmt und miteinander verbindet. Der 1966 als zweiter deutscher Bundesverkehrsminister frisch installierte Georg Leber nahm sich nur neun Monate Zeit, um den legendären „Leber-Plan“ am 22. September 1967 auf den Tisch zu legen. Offiziell hieß das Werk allerdings „Programm zur Gesundung des deutschen Verkehrswesens“, ein Schalk, wer dort Wortzusammenhänge erkennen will.

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Dieses „Verkehrspolitische Programm für die Jahre 1968 bis 1972“ war somit der erste Versuch, Ordnung in die Verkehrsplanung zu bringen. Es gab 1966 zwar nur knapp über zehn Millionen Personenwagen, andererseits jedoch 16.800 Verkehrstote, eine unfassbare Zahl angesichts der 3.475 Verkehrstoten im Jahre 2015. Während Lebers Amtszeit und der Wirksamkeit des Programms stieg die Zahl der Verkehrstoten im Jahre 1970 sogar noch auf den Höchststand von 19.193!
Leber schaffte es wie kaum ein anderer Bundesverkehrsminister, weiter politische Karriere zu machen. Nachdem er 1969 zusätzlich Bundespostminister wurde, war er ab 1972 Bundesverteidigungsminister und von 1979–83 Bundestagsvizepräsident. In jüngerer Zeit hat man eher den Eindruck, der Posten des Bundesverkehrsministers ist ein politisches Abstellgleis, eine Einbahnstraße ohne Wendemöglichkeit.
Interessant ist auch zu erwähnen, dass sein Vorgänger, also der erste Bundesminister für Verkehr, Hans-Christoph Seebohm, bis heute den Rekord für eine ununterbrochene Amtszeit als Bundesminister hält, nämlich von 1949– 66. Schaut man auf seine späteren Nachfolger, so schrumpfen die Amtszeiten teilweise dramatisch zusammen, stakkatoartig wurde gewechselt. Eigentlich verwunderlich, denn die Bedeutung des Amtes und das Budget für Verkehr wurden ständig erhöht.
Parallel dazu wurden die Planungshorizonte für die Bundesverkehrswegepläne (BVWP) immer länger. Allerdings zeigte sich schon früh, dass zwischen Mittelbedarf und verfügbarem Geld deutliche Diskrepanzen bestanden. Der erste BVWP stammt aus dem Jahr 1973, dann 1980, 1985, 1992 und schließlich 2003. Der 1985er sollte ursprünglich bis 2000 reichen, aber durch die Wiedervereinigung wurde natürlich eine grundsätzliche Überarbeitung notwendig.
Grundsätzlich gesehen sind alle Pläne verwirrende Zahlenspiele. In unzähligen Tabellen wird hin- und hergerechnet und am Ende hat man den Blick auf das Wesentliche verloren: Was ist eigentlich wirklich geplant? Da sind durchweg Experten am Werk, die ihr Verwirrhandwerk verstehen. Da aber alle Planungen auch auf Prognosen des Bedarfs zurückgreifen, kann man ja eh nicht genau sagen, was nötig sein wird. Aber hinterher ist alles meistens sowieso zu wenig gewesen.

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Den Löwenanteil sahnen bei BVWP natürlich die Bundesfernstraßen ab. So waren schon 1973 für die Bundesfernstraßen rund 70 Prozent der Gesamtsumme von etwas über 200 Milliarden DM als längerfristiger Investitionsbedarf geplant. Danach kommen natürlich die Deutsche Bahn (circa 22 Prozent) sowie Bundeswasserstraßen (knapp sechs Prozent). Damals wurden sogar noch Flugsicherung und Flughäfen mit 1,5 Prozent bedacht. Doch dann wurden diese Zahlen schnell korrigiert. So viel Geld stand doch gar nicht zu Verfügung, was umfangreiche Streichungen nach sich zog. Das Ergebnis am Ende nannte man dann schlicht „angestrebtes Investitionsvolumen“.
Da wurde auch schnell eine Kategorisierung eingeführt. Was vorher zwei Dringlichkeitsstufen waren, wurde zu „Vordringlichem“ beziehungsweise „Weiterem Bedarf“. Wohl ab dem BVWP 1992 (Wiedervereinigung) wurde das NKV (Nutzen-Kosten-Verhältnis) zu einem wichtigen Bewertungsinstrument für Einzelmaßnahmen. Da natürlich wieder nicht genug Geld da war, mussten Projekte der Deutschen Bahn mindestens ein NKV von 3,0 haben (Ausnahmen gibt es natürlich auch!), ein hoher Anspruch (liegt die Schwelle beim BVWP 2030 doch nur bei 1,0). Allerdings zeigen sich bei der Berechnung solcher Werte gewisse Spielräume beziehungsweise Unsicherheiten. Letztere zeigen sich, wen wundert es, hauptsächlich bei den Kosten. Da steht gerne unter einer Tabelle: Preisstand/Jahreszahl, wobei das Jahr schon einiges her sein kann. Was so etwas wert ist, muss hier nicht mehr gesondert erwähnt werden. Die Spielräume entstehen bei dem Nutzen, der aus allerlei Einzelfaktoren bestehen kann, beliebig zusammengewürfelt und höchst zeitabhängig.
Da werden dann Worte wie „gesamtwirtschaftlich“, „ökologisch“ oder „städtebaulich“ bemüht, um Berechnungen anzustellen. Die einzelnen Bundesländer, ja sogar Abgeordnete oder der Bund selbst, Verbände oder irgendwelche anderen Akteure können Vorschläge machen und hoffen, am Ende das gewünschte Projekt im BVWP vordringlich wiederzufinden. Im Hintergrund findet da natürlich eine Menge Lobbyarbeit statt. Es wurde dabei auch trefflich diskutiert, ob tatsächlich der eine oder andere Verkehrsminister (warum eigentlich noch nie eine Frau?) vor seiner Haustüre oder im eigenen Wahlkreis beispielsweise Lärm mindernde Maßnahmen durchgesetzt hat, vielleicht sogar das eigene Bundesland ein wenig gep(f)uscht hat …
Sei es drum, neuerdings spielen dann auch solche Kriterien wie Verkehrssicherheit, Erhalt der Verkehrswege, Erreichbarkeit, Umwelteinflüsse, aber auch induzierter Verkehr eine Rolle. Da gibt es also genügend Stellschrauben, an denen man drehen kann. Man sollte bei aller kontroversen Diskussion aber insgesamt gesehen deutlich klarstellen, dass ein BVWP weder ein Finanzierungsplan ist noch Gesetzescharakter hat.
Lange angekündigt und gut vorbereitet, hat der aktuelle Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt seinen großen (Ent-)Wurf der Öffentlichkeit vorgestellt. Wohlgemerkt, es handelt sich nicht um einen neuen seiner durchaus auffälligen (karierten!) Anzüge, sondern es geht vielmehr um ein umfangreiches Schriftwerk voller Zahlen und Abkürzungen. Schon bei der Namensgebung wurde Entscheidendes geändert: Zuerst als BVWP 2015 angekündigt (was der Logik der Vorgänger entspräche), wurde daraus kurzerhand BVWP 2030. Mittlerweile ist es ja bei fast allen Programmen und Agenden schick, einen Zielhorizont zu vermitteln, das Entstehungsjahr interessiert ja sowieso keinen mehr (wann entstand die Agenda 2010 eigentlich?).
Aber es hat sich noch viel mehr geändert. Ja es ist sogar Unerhörtes pas- AUTOR siert: Man wollte die Öffentlichkeit an der genauen Ausgestaltung des Entwurfs im Rahmen eines Konsultationsverfahrens beteiligen. Dabei geht es im Wesentlichen um Netzwirkungen einzelner Projekte. Mit viel Liebe zum Detail sind vom Bundesverkehrsministerium (BMVI) viele Seiten im Internet dazu bereitgestellt worden, die Frist lief vom 21. März bis zum 2. Mai, 23:59 Uhr.
Das ist anscheinend gut angekommen, denn wie man hört, sind rund 40.000 Beiträge eingegangen. Vonseiten des BMVI wurde zugesichert, dass alle Stellungnahmen bearbeitet würden. Allerdings sehen Kritiker in der Bürgerbeteiligung eher Frustrationspotenzial, denn dadurch würden Hoffnungen geschürt, man könne tatsächlich etwas an dem Entwurf ändern, vielmehr aber handelt es sich um unerfüllbare Erwartungen. Tatsächlich wird in den parteipolitischen Netzwerken unter Ausschluss gerade dieser Bürger um Einflussnahme auf die Priorisierungen gerungen.
Bei den Priorisierungen handelt es sich um die Einstufung in „Vordringlichen Bedarf-Enpassbeseitigung“ (VB-E, neu!), „Vordringlichen Bedarf“ (VB) und „Weiteren Bedarf/mit Planungsrecht“ (WB/WB). Es gibt auch Projekte, die einfach direkt ausgeschieden sind, beispielsweise weil kein Bedarf (KB) besteht. Der WB/WB betrifft beispielsweise viele Ortsumgehungen, für die neue Flächen erschlossen werden müssten, ab 2030 also nochmals nachfragen (oder schnell netzwerken!). Allerdings sind andererseits auch viele Ortsumgehungen (386) berücksichtigt. Die Engpassbeseitigung hat dagegen höchste Priorität, da sie auf Reduktion von Staustunden auf Strecken mit besonders hoher Verkehrsbelastung abzielt.
Wichtig ist hier anzumerken, dass immer der „Bezugsfall“, also die Verkehrssituation 2030 ohne Realisierung der Projekte, mit dem „Planfall“, also nach Umsetzung der Maßnahme verglichen wird. Gerade bei Autobahnkreuzen verschwinden dann die jährlichen Staustunden im Werktags-, Urlaubs- oder Sonn- und Feiertagsverkehr wie von Geisterhand. Schön wär’s, wenn man solche Prognosen wirklich belastbar machen könnte. Nur im Jahr 2030 interessiert das keinen mehr, weil dann schon am nächsten BVWP gearbeitet wird!
Wer sich informieren will, kann das schon interessante Portal PRINS (Projektinformationssystem, www.bvwp-projekte.de) nutzen und alle Planungen detailliert anschauen. Bei der Fülle der Daten kann man sich schnell mal „verklicken“, man kommt dann aber der Methodik ein wenig auf die Spur, insoweit es vier verschiedene Module der Bewertung gibt: Nutzen-Kosten- Analyse (A), Umwelt- und Naturschutzfachliche Beurteilung (B), Raumordnerische Beurteilung (C) und Städtebauliche Beurteilung (D). Der Verwirrung sind keine Grenzen gesetzt. Leider strotzt der erste Entwurf aber vor Fehlern, man hätte sich vielleicht doch mehr Zeit lassen sollen. Eine korrigierte Fassung 2.0 soll folgen und dann schnell beschlossen werden. Das Ende der Legislaturperiode naht!
Die höchste Klippe ist allerdings das schon angesprochene Nutzen-Kosten- Verhältnis (NKV). Da wird beim Nutzen alles Mögliche in Geld umgerechnet und am Ende durch die Kosten (wohlgemerkt Preisstand heute oder gestern) dividiert. Kommt da eine Zahl kleiner Eins heraus, ist das Aus des Projektes unabwendbar. Am Ende gibt es auch noch den Umweltbericht („Strategische Umweltprüfung zum BVWP 2030“). Wenn man da reinschaut, wundert man sich, dass überhaupt irgendein Projekt an den Start geht. Da geht es dann beispielsweise um „Großräume der Feucht-, Trocken- und Waldlebensräume“, „Großsäugerlebensräume“ oder „Durchfahrung von Überschwemmungsgebieten beziehungsweise Wasserschutzgebieten“. Da wird man immer etwas Passendes finden, schließlich reicht auch Lärm oder simpel Schadstoffausstoß.
Es wurde immer wieder betont, dass der Erhalt vor dem Aus- und Neubau kommt. Trotzdem kamen von den Antragstellern 2.300 Projektideen für Bundesfernstraßen, von denen am Ende im VB/VB-E nur 910 Berücksichtigung fanden. So wundert es nicht, dass von den angegebenen 264,5 Milliarden Euro 69 Prozent in den Erhalt aller Verkehrsträger fließen, der Rest in Aus- und Neubau. Die 15 Milliarden pro Jahr sollen angeblich im Haushalt fest eingeplant sein. Insgesamt sollen 94,7 Milliarden Euro für Neubauten im VB/VB-E zur Verfügung stehen, davon 49,7 Milliarden Euro für Straßen. Schaut man sich die tollen Zahlen mal genauer an, so stellt man fest, dass nach Herausrechnen der laufenden und fest disponierten Vorhaben (15,9, nicht fertig gewordene Altlasten) und der Vorhaben ab 2031 (14,5, „Schleppe“) nur noch 19,3 Milliarden Euro frei verfügbar sind, und das für 15 Jahre!
Man sieht, das ist alles eine wilde Rechnerei, die man noch beliebig fortsetzen könnte. Nur am Ende kommt dann doch nicht viel mehr heraus. Wobei wahrscheinlich mehr herausgekommen wäre, wäre die Einbeziehung der Lkw-Maut-Daten erfolgt. Diese würden, anonymisiert natürlich, sehr genau Aufschluss über den Güterverkehr auf der Straße und insbesondere die Umfahrungen unserer noch jahrelang laufenden Großprojekte liefern. Das Ministerium hatte ja seinerzeit den Vertrag mit dem Maut-Konsortium abgeschlossen und sich dabei selbst ausgeschlossen! Man kann nur hoffen, dass am Ende nicht viel verkehrt läuft, sorry: fährt!
AUTOR
PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein- Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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