Die sieben Stausünden

In einer allzu fernen Zukunft werden wahrscheinlich alle menschlichen Befindlichkeiten aus dem Verkehr verbannt sein, ja er wird verhaltenstechnisch als „antiseptisch“ daherkommen (oder besser: daherfahren?). Emotionen werden einfach nicht mehr zugelassen. Der in der Software versteckte Algorithmus regiert das Mit- und Gegeneinander auf der Straße. Doch bis dahin müssen wir uns noch ein wenig gedulden und mit den anderen Unbelehrbaren anonym auseinandersetzen.

Die sieben Stausünden
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Und bei dieser Auseinandersetzung kann man gewisse „Regelmäßigkeiten“ ausmachen. Verhaltensauffällige Defizite sind an der Tagesordnung und werden geradezu liebevoll kultiviert. Schaut man sich das Spektrum möglicher Ausfälle genauer an, kommt man auf sieben elementare Verfehlungen, die wahrscheinlich kaum einer leugnen wird (zumindest nicht vor sich selbst).

Es lassen sich sogar direkte Bezüge zu den bekannten sieben Todsünden herstellen, wobei deren Gewicht, eben auch historisch bedingt, natürlich ganz anders gelagert ist. Trotzdem lohnt sich ein Blick auf Ursache und Wirkung, sind doch (noch immer!) Menschen leibhaftig am Verkehrsgeschehen beteiligt. Und das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben. Also worum handelt es sich denn nun genau

Zu dichtes Auffahren
Steigt dem Fahrzeuglenker die Zornesröte aufgrund zu geringer Fortbewegungsdynamik der Vorderleute ins Gesicht, so entstehen schnell brenzlige Situationen, die automatisiert einfach zu verhindern wären. Bei den Todsünden wird man schnell mit Zorn (lateinisch „Ira“) fündig, allerdings hat dies auch im Verkehr eigentlich eher nichts zu suchen.

Doch ist es überhaupt auf der Straße möglich, einen wie auch immer gearteten Sicherheitsabstand einzuhalten? Eigentlich nicht, denn sofort wird sich ein „Vordrängler“ in die Lücke schieben, ohne Rücksicht auf den Sicherheitsabstand nach hinten (das wahrscheinlich größte Übel auf unseren Autobahnen momentan generell!). Warum gibt es bei allen wohlmeinenden Maßnahmen mit riesigen Plakataktionen an den Strecken nicht eine einzige in diese Richtung

Ja es gibt sogar neuere Tests auf der A52 in NRW mit Lkws, die via „Platooning“ aneinander gekoppelt sind und nur noch 15 Meter Abstand halten, bisher maximal drei in Folge. Wie kommt man dazwischen? Wagt man den direkten Spurwechsel, so unterschreitet man klarerweise den Sicherheitsabstand, nach vorne wie nach hinten. Durch Kommunikation soll dies gelöst werden. Wie dies tatsächlich funktioniert, ist täglich auf den Strecken zu beobachten …

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Zusätzlich lässt sich vermerken, dass die Polizei eher großzügig mit den Unterschreitungen des Sicherheitsabstandes umgeht. Unterhalb der Hälfte wird meistens erst reagiert. Genauso wird ja auch beim Blitzermarathon verfahren, erst bei über zehn km/h Überschreitung wird eingegriffen (laut StVO sollte dies allerdings früher geschehen!). Das wird sich allerdings in der autonomen Szene in Zukunft ändern. Da wird es kein Pardon mehr geben, lässt sich doch alles an der Software haarklein ablesen.

Lückenhüpfen
Eine der Grundeigenschaften des Menschen ist die Beobachtung der anderen und der dazugehörige Vergleich (bekanntlich das Ende der Zufriedenheit!). Und da ist auch der Bezug zur nächsten Todsünde zu finden: Neid („Invidia“). Die andere Spur ist anscheinend immer die schnellere, wie psychologische Studien schon häufiger ergeben haben. Der eigentliche Grund für die Hüpferei ist eben die ständige Angst der Menschen vor Benachteiligung. Beim Kolonnenfahren, zum Zuschauen verdammt, machen sich Fahrer so ihre (unsinnigen) Gedanken. Vergleichsfahrten haben ergeben, dass die stressige Wechselei nur mikroskopische Vorteile bringt.

Eine Folge der (leider) evolutionären Erblast der heutigen Menschheit ist die Geringschätzung des Geschehens, das hinter ihr liegt. Die Augen des Menschen sind nicht umsonst vorne angebracht, mit allen negativen Folgen. Der Rucksackträger bei einer Drehbewegung im Zug lässt grüßen! Gedacht wird nur nach vorne: einerseits sinnig, andererseits unsinnig. Im Straßenverkehr hat dies häufig fatale Folgen: Der Spurwechsel löst eine dieser so überflüssigen Stauwellen aus. Der Verursacher bekommt sie aber AUTOR gar nicht mal mit. Und ist sich demzufolge auch keiner Schuld bewusst. Woher auch? Man steht dann im Stau, weil „Gleichgesinnte“ vor einem schon das Gleiche veranstaltet haben, was man nun selbst praktiziert. Einen Spiegel gibt es trotzdem bis heute leider nicht.

Unaufmerksamkeit
Das Problem der Zukunft schlechthin. Bringt man es wieder mit den sieben Todsünden in Verbindung, so landet man ohne große Umwege bei Faulheit („Acedia“). Die Studien zu diesem Thema überschlagen sich förmlich. Die Ablenkung wird zur Philosophie einer ganzen Generation. Ständig online und immer erreichbar hat der Fahrer heutzutage schließlich etwas Besseres zu tun als sein Gefährt in der Spur zu halten. Die Automobilindustrie kommt ihm dabei ja mit einer Reihe von Assistenzsystemen buchstäblich entgegen.

Die Folge ist nur zu menschlich: träumerischer Umgang mit dem Lenker lässt schnell mal eine Stauwelle entstehen. Dabei ist eigentlich ständige Konzentration gefordert. Bei der Fliegerei hat man das schon seit Längerem erkannt, die maximale Arbeitszeit am Stück in der EU liegt bei elf Stunden. Allerdings heißt das auch, bei langweiligen Nachtflügen ständig hellwach zu sein. Das Gespenst der kompletten Automatisierung hat man dort übrigens zu Grabe getragen: In letzter Instanz entscheidet immer der Pilot.

Die Unaufmerksamkeit ist allerdings nicht allein der Technik geschuldet. Intensive Gespräche und vor allem Streitgespräche lenken grandios vom verkehrlichen Drumherum ab. Dort werden auch massiv Emotionen investiert. Wann ist man schon mal über längere Zeit auf so engem Raum zusammen eingesperrt? Da muss es knistern und knarzen.

Faulheit ist eine Art von Bequemlichkeit, die wiederum zu Unaufmerksamkeit führt. Das Gehirn frisst eben die meiste Energie im Körper. Und da wir ja alle Energie sparen wollen …, jeder weiß, wie das jetzt weitergeht. Nur steuert genau dieses Gehirn auch unsere sonstigen Aktivitäten. Sind wir nun Herr oder nur das Gescherr

Reißverschluss
Der Reißverschluss hat von vorneherein etwas Negatives an sich. Warum heißt es nicht „Reißöffnung“? Der Verschluss hat etwas mit „Versagen“ im Sinne von Verweigern zu tun, also ganz nah an der Todsünde des Geizes („Avaritia“). Hier zeigt sich die ganze Unmenschlichkeit des praktizierten Egoismus, getarnt durch die Anonymität der automobilen Hülle.

So genial dieser reißende Verschluss in seiner Erfindung war (vielleicht sollte man es heute mal mit einem Klettverschluss probieren …), so wenig scheint er auf der Straße Freunde zu finden. Solch abstrakte Dinge hatten es schon immer schwer, in der Bevölkerung Gehör und in der Folge Akzeptanz zu finden. Immer noch wird das sehr frühe Wechseln auf die verbleibende Spur als besonders vorbildliches Verhalten interpretiert, wird doch schon an vielen Orten mit durchgezogenen Linien bis 150 Meter vor dem Flaschenhals versucht, genau dieses zu verhindern. Selbst Verkehrsschilder widmen sich mittlerweile dem aussichtslosen Unterfangen, daran etwas zu ändern.

Und wehe, da versucht sich einer vorzudrängeln. Wie in einer klassischen Hackordnung soll hinter mir bleiben, wer vor dem Verschluss hinter mir war. Mit dem „Schließen der Lücke“ (nicht des Reißverschlusses!) wird jedwede Vorwitzigkeit geahndet. Da haben die Autonomen mit ihrer sturen Ordnungshörigkeit noch einiges zu lernen (und ständig das Nachsehen!).

Studien haben zudem ergeben, dass das „Reißverschlussprinzip“ höchst ineffektiv ist. Im Rahmen der Vernetzung werden da ganz neue Konzepte möglich sein, die eine Art „Fairnessparameter“ berücksichtigen: Die Verlustzeit wird auf alle Beteiligten gleichmäßig umgelegt. Aber gerade hier zeigt sich exemplarisch, wie wenig Menschen letztendlich zu Kompromissen bereit sind.

In der vor etwas mehr als 50 Jahren zum ersten Mal ausgestrahlten Sendung „Der 7. Sinn“ (mit der sonoren Stimme von Egon Hoegen) wurde das Reißverschlussprinzip anschaulich vorgestellt und, man höre und staune, in der Folge praktiziert. Ende 2005 wurde die (vorerst) letzte Sendung ausgestrahlt. Wahrscheinlich war das auch das Ende des Reißverschlusses …

Verstopfung der Kreuzung
Automobilen Nahkampf pur kann man am besten in Innenstädten beobachten. Dort zeigt sich in Kreuzungsbereichen der ganze Stolz („Superbia“) des sündigen Fahrers. Oder frei nach Goethe (Faust Teil I, Vor dem Tor): „Hier bin ich Fahrer, hier darf ich‘s sein.“

Der Verkehr in der Stadt wird bekanntermaßen durch die Kreuzungen bestimmt. Und häufig stehen da Ampeln, in neuerer Zeit bisweilen durch Kreisverkehre ersetzt. Geben nun zwar die „Lichtsignalanlagen“ ein deutliches Zeichen für „Yes or No“, so bleibt der arme Fahrzeuglenker selbst bei grünem „Go“ mit der Entscheidung allein, wirklich diesen hochkomplexen Kreuzungsbereich mit Querverkehr zu befahren und letztendlich zu verstopfen. Ein Zurück gibt es dann normalerweise nicht mehr. Die Entscheidung ist „irreversibel“. Aber auch schnell gefällt. Die bösen Blicke von der Seite kann man locker mit stierem „Geradeausblick“ entgegnen. Flugautos könnten da ab 2017 vielleicht Abhilfe schaffen.

Gaffen
Auch hier ist eine bedenkliche Entwicklung zu verzeichnen. Dabei bleibt es mittlerweile eben nicht mehr beim Gaffen mit eigenen Augen, das Smartphone kann doch alles für alle festhalten. Etliche Fälle dieser Art wurden jüngst gemeldet. Der Tatbestand der Wollust („Luxuria“) ist locker erfüllt. Die eigene Befriedigung geht dabei einher mit massiven Auswirkungen. Und wohin? Nach hinten natürlich, und keinen interessiert es.

In den Niederlanden werden bei Unfällen Sichtwände aufgestellt, um die Gafferei einzuschränken. Auch in Deutschland sind solche Bestrebungen im Gange, insbesondere in Nordrhein-Westfalen. Ob dadurch Entlastung geschaffen wird, bleibt abzuwarten. Die Neugier des Menschen hat ihn dahin geführt, wo wir heute stehen (und fahren). Aber alles hat auch seine Kehrseite, und die digitale „Versklavung“ ist sozusagen eine Art „Kollateralschaden“, ein Wort von immenser Durchschlagskraft!

Herdentrieb
Prognosen für das Verkehrsaufkommen, gerade zu Ferienzeiten, sind von besonderer Brisanz. Das hat dann schon etwas von Unmäßigkeit, ja Völlerei („Gula“), womit wir den Kreis des Sünden-Zirkels schließen. Die Entscheidung über den richtigen Abfahrtszeitpunkt ist nach wie vor eine Geheimwissenschaft. Fahren dann, wenn am meisten gewarnt wird? Denn die Abschreckung bewirkt ja ihr Übriges, und ich kann davon profitieren. Wenn wir alle mal vernetzt sind, gibt es da bestimmt diffizilere Methoden der Planung.

Das Hauptproblem ist letztendlich die Rolle der „Antizipation“. Was werden die anderen machen? In vielen Fällen eine entscheidende Frage. Die Hoffnung, diese über Algorithmen klären zu können, ist äußerst trügerisch. Diese Ansammlung von sieben Stausünden kommt auf den ersten Blick äußerst negativ daher, allerdings sind auf der Positivseite bestimmt mehr als sieben Punkte aufzulisten. Da kann sich jede Software ihren eigenen, wie auch immer gearteten Reim darauf machen. Und gebeichtet werden müssen die Stausünden, die insgesamt zu Milliarden von Staustunden führen, ja schließlich auch noch. Der Staupapst lässt grüßen!

 

 

AUTOR

PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.

Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein- Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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