Die smarte Gefahr

Seit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert hat es keine bedeutendere Revolution der mobilen Information mehr gegeben als die Welt der Smartphones. Nun gut, heute ist eigentlich alles „smart“: Smart City, Smart Eating, Smart Learning, ja sogar Smart Wellness wird uns untergejubelt. Doch dabei verliert das Wort „smart“ leider komplett seinen smarten Charakter.

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Dem staunenden Deutschen bleibt am Ende nur ein Blick ins Wörterbuch, wo „smart“ mit „elegant“, „fesch“, allerdings auch „gerissen“ übersetzt wird. Und gerade diese Gerissenheit wird heute zu einem Problem, und zwar einem echten. Gab es früher Menschen, die bücherlesend blindlings über die Straßen gelaufen sind? Haben die Fahrgäste damals in den Bahnen nur an die Decke gestarrt oder gemeinschaftlich Topflappen gehäkelt? Man muss schon intensiv nachdenken, um sich an die „vorsmarten“ Zeiten zu erinnern. Oder man schaut einfach in eben diesem Smartphone nach, was früher mal war (wenn nicht ein interner Filter den Zugriff auf diese unsmarten Zeiten verhindert!).

Langsam jedoch dämmert jedem, der diese Kommunikationsdroge mal kurzzeitig beiseite legt, dass sich da doch einiges vehement verändert hat. In uns, und vor allem mit uns. Nicht umsonst sind Unternehmen wie Google oder Facebook heute mehr wert als gestandene, Hardware produzierende Automobilhersteller, ja sie könnten diese sogar locker „schlucken“. Dort hat man den Einsatz der digitalen Medien teilweise falsch verstanden oder gar verschlafen. Die Software übernimmt überall das Regiment.

Die mobile Information ist zum Menetekel unserer Gesellschaft geworden. Wer wirklich auf dem Stand der Dinge sein will, lädt sich Apps von 100 Nachrichtenagenturen herunter, mit ständiger akustischer Aufforderung, die neuesten, eben vor allem negativen, Meldungen auch gefälligst zu lesen. Ist ja auch interessant, was beispielsweise „Hawaii News Now“ gerade Wichtiges zu vermelden hat. Die zugehörige App ist jedenfalls viel gefragt.

Es soll jetzt hier aber auch nicht über den aktuellen Schritt in die automobile Inkompetenz ob der Selbstständigkeit unserer vierrädrigen Leidensgenossen philosophiert werden. Das wird in der Tat noch dauern. Doch es ist abzusehen, dass dort der „menschliche Faktor“ ebenfalls zurückgedrängt wird mit dem Resultat, dass das elementare Verständnis für die notwendigen Prozesse abhandenkommt. Wer kann denn heute noch überhaupt eine Birne im Fahrzeug wechseln? Dem VW-Käfer früher einen neuen Auspufftopf zu verabreichen war Gemeinwissen und kostete nur eine Stunde Lebenszeit.

Die Problematik der smarten Entmündigung wird auch gerade erst am Horizont sichtbar, es bleibt noch Zeit genug zu reagieren. Wie betitelte DER SPIEGEL so schön einen Artikel Anfang des Jahres (4/2016) zu dem Thema: „Lotterie des Sterbens“. Schädigt die smarte Software eher mich als Insassen oder den Fußgänger auf dem Bürgersteig? Da kommt man schon ins Grübeln, ob man sich wirklich so weit zurückziehen möchte. Spannende Auseinandersetzungen sind jedenfalls schon jetzt vorprogrammiert (!). Und der Ausgang ist durchaus ungewiss.

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Die weitergehende Entmündigung im normalen Alltag findet allerdings sowieso jetzt schon allerorten und fast jederzeit statt. Diskussionen sind keine Meinungsäußerungen mehr, sondern ein Spiegelbild des schnellsten Internetzugriffs. Über Fakten wird nicht mehr gestritten, nur noch gegoogelt. Wer da nicht mithalten kann, ist raus: Aus die Maus! Ein brutales Geschäft, zumal man teilweise genauso viele „Updates“ wie Nachrichten bekommt. Mit dem menschlichen Körper verglichen würde das in etwa bedeuten, dass wir gar nicht so schnell und viel trainieren können, wie wir an Kraft verlieren. Oder noch schlimmer: Wir vergessen schneller, als wir lernen können.

Ja, die ständige mobile Information birgt Chancen, aber auch erhebliche Risiken. Sie entpflichtet uns des eigenen Erinnerns, da ständig mediale Hilfe im „Back“ abrufbar ist. Der Notstand entsteht dann allerdings sehr schnell, AUTOR wenn der Akku oder die Netzanbindung ihren Dienst versagen. 98 Prozent aller jungen Menschen sind einer Studie zufolge ständig online. Und sind sie dies nicht, so stellt es sich für sie als „Notfallsituation“ dar. Zückt man in Bus oder Bahn nicht sofort den medialen Glücksbringer, so outet man sich sofort als Aussätziger, der nicht (mehr) dazugehört, der nicht mehr folgen kann. Auch da findet man ein elementares Problem der smarten Zukunft. Fällt die Kommunikation aus, irrt die Software auf sich allein gestellt im „bitfreien“ Raum umher. Der Mensch hat immer einen Plan B (halt „Business“), autark und ohne Vernetzung. Wie hätte das in der Evolution im Angesicht eines Löwen auch sonst funktionieren sollen

Was aber besonders zu denken gibt, ist, dass sich unser gesamtes Mobilitätsverhalten plötzlich in eine andere Richtung bewegt. Einerseits braucht der Mensch aufgrund der Vernetzung nicht mehr so viel Mobilität. Was früher ein Treffen erforderte, wird heute online erledigt. Und das nach dem 24/7-Prinzip, immer und überall.

Andererseits sind tatsächliche Verabredungen jedweder Art einfach und umfassend realisierbar. Die sozialen Netzwerke ermöglichen dies durch ihre offene und auch offensive Herangehensweise. Kein Politiker mit Wahlchancen kann sich mehr aus Facebook oder Twitter heraushalten. Ständige Wasserstandsmeldungen werden geradezu gefordert. Wer nicht mitschwimmt, geht unter.

Unsere mediale Neuausrichtung hat genau dieses Problem noch deutlich verschärft. Egal ob Anruf, aktuelle Nachricht oder sinnloser Austausch von Fotos, die Reaktion ist immer dieselbe: Hauptsache stehen bleiben, egal was hinter oder besser, um einen, passiert. Komplette Ablenkung inklusive. Es scheint so etwas wie ein mit uns zwar vernetztes, aber dennoch abgekoppeltes Paralleluniversum zu geben, jenseits unserer physikalisch betastbaren Erlebniswelt. Und jeder hat seinen eigenen Zugang, der Film „Interstellar“ zeigt ja eindrucksvoll, was wissenschaftlich durchaus vertretbar alles möglich ist.

Schon jetzt wird darüber philosophiert, ob Mobilität sowieso nur noch virtuell stattfindet. Mit „Google Earth“ kommt man doch überall hin, ohne einen Fuß vor die Türe gesetzt zu haben. Und billiger sowie bequemer ist es allemal. Die Investition in ein am Tage statistisch gesehen 23 Stunden still stehendes Gefährt kann man sich doch getrost sparen. Darum drängen die Automobilhersteller auch massiv in den Kommunikationsmarkt, sozusagen als das „fahrende Smartphone“.

Das wahre, „smarte“ Übel kommt aber erst noch. Grau ist alle Theorie, die Praxis zum Teil dunkelschwarz. Der Drang zur ständigen Erreichbarkeit hat Formen angenommen, die jeder Beschreibung spotten. Dabei überholt sich die Technik teilweise selbst und fährt sich ins abpfiffreife Abseits. Selbst der kommunikationswillige Verkehrsteilnehmer erfährt von seiner installierten legalen Onboard-Software, dass eine Telefonverbindung über Bluetooth nicht möglich ist, weil die dafür notwendige aktuelle Version gerade nicht installiert ist (andere Software sehr wohl …). Wenn sich einem da die Zähne nicht blau färben …

Also bleibt doch nur die verbotene Variante. Jeder dritte junge Mensch gibt zu, unterwegs im Fahrzeug SMS zu verschicken. So ein Quatsch: Wer verschickt noch SMS? WhatsApp ist momentan das Maß aller Dinge, 900 Millionen Nutzer weltweit mit zig Milliarden (sinnfreien?) Messages pro Tag. Der Drang, sich medial zu äußern, hat andere Dränge längst abgedrängt. Musikalisch würde man „Dünnpfiff“ dazu sagen.

Untersuchungen zu Auswirkungen des kommunikativen Drogenkonsums gibt es genügend. Selbst das erlaubte Telefonieren mit Freisprecheinrichtung (wenn sie denn überhaupt funktioniert!) mindert einer amerikanischen Studie zufolge die Aufmerksamkeit wie 0,8 Promille reinsten Alkohols, bei den (verbotenen) Messenger-Kontakten wird entsprechend einer Untersuchung der TU Braunschweig noch ein Gläschen zusätzlich eingeschenkt. Mit 1,1 Promille hat man das die Sinne betäubende Klassenziel erreicht.

Ganz aktuell gibt es dazu eine sehr umfangreiche Studie vom Virginia Tech Transportation Institute in Blacksburg (VTTI) mit Sensoren bei 3.500 Fahrern und erschreckendem Ergebnis. Ein durchaus auf Deutschland mit seiner wieder steigenden Anzahl an Unfallopfern übertragbares Ergebnis sieht den Hauptgrund dafür im Hantieren mit dem Kommunikationsgerät, ja sogar das Suchen danach schlägt aufmerksamkeitsmindernd deutlich zu Buche.

Über 50 Prozent der Zeit am Lenker sind die Menschen abgelenkt, fast 70 Prozent der Unfälle basieren darauf. Alleine der Griff zum smarten Phone erhöhte die Unfallgefahr um das Fünffache, Lesen und Schreiben von Nachrichten sogar um das Zehnfache. Insgesamt war der Faktor 3,6 dem Handy geschuldet.

Der nordrhein-westfälische Innenminister Jäger hat darum der Handynutzung im Fahrzeug den Kampf angesagt. Mit Strafmaßnahmen ist da aber nur bedingt wirklich etwas zu erreichen. Da muss Einsicht bei den Fahrern her, aber da zeigt sich die Politik (leider) wenig einsichtig.

Die Wirkung ist jedenfalls enorm. Vermutlich gehen an die 300.000 Unfälle pro Jahr auf unseren Straßen auf Kommunikationssucht zurück. Am schlimmsten trifft es natürlich die Fußgänger. Medientechnisch im rechtsfreien Raum dürfen sie alles und jedes, ein gut gemeinter Rat ist das äußerste Mittel der möglichen medialen Schelte. Im Netz werden radikale Videos verbreitet, die durchaus sehenswert sind. Der bekannte Regisseur Werner Herzog („Aguirre, der Zorn Gottes“ mit Klaus Kinski) hat in einem 35-minütigen Werk namens „From One Second to the Next“ (2013) eindrücklich auf die Gefahren von während der Fahrt gesendeten SMS aufmerksam gemacht.

Es geht aber auch deutlich schneller. In lediglich 1:12 Minuten lässt die Polizei von Lausanne einem knallhart das Handy eiskalt den Rücken runtergleiten (https://www.youtube.com/watch?v=xqVMXMuG2HU). Muss man tatsächlich mehrmals anschauen (oder besser gar nicht).

Die Fußgänger gefährden sich aber nicht nur selbst gegenüber „stärkeren“ Verkehrsteilnehmern, wie aktuelle Statistiken leider belegen. Nein, sie sind am Ende eine Gefahr untereinander. Wie sonst sind weltweite Bemühungen zu erklären, die „Verpeilten“ vom Rest und voneinander zu trennen? Beginnend in Washington (USA) über Chongqing (China) bis nach Bangkok (Thailand) hat man versuchsweise eigene Fußgängerspuren für die Süchtigen zwecks Selbstschutz eingerichtet. Hauptergebnis war großes Interesse der Touristen an den neuen, ungewöhnlichen Bodenmarkierungen.

Die Smartphones, für die diese Lanes eingerichtet wurden, werden zu ihrem eigenen Hindernis. Projekte beendet, waren mal einen Versuch wert. Noch haben wir keinen Plan für die smarte Zukunft. Doch die Gefahr beginnt, nicht mal mehr schleichend, ihre „smarte“ Gerissenheit auszuspielen (!).

Ich spiele meine Gerissenheit auch aus und freue mich darüber, Ihnen hiermit meine 50. Kolumne präsentiert zu haben. Damit habe ich weit mehr als 500.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen!) gesetzt. Ich hoffe jedenfalls, dass Ihnen das eine oder andere Zeichen gefallen hat. Und ich werde mir in Zukunft weiterhin Mühe geben, Sie nicht unnötig zu langweilen und zudem noch auf weitere smarte Gefahren hinzuweisen!

 

AUTOR

PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.

Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein- Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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