Tunnelblick
Die Urlaubszeit nähert sich unweigerlich (trotz noch nicht angemessener Temperaturen) und damit steht häufig die Fahrt in den tiefen Süden Europas an. Doch auf dem Wege tun sich einige nicht unerhebliche Hindernisse auf, jedenfalls für den autoaffinen entspannungssuchenden Ferienfahrer. Die Natur hat eine Gebirgswand zwischen uns in Deutschland und dem Süden vor vielen Millionen Jahren entstehen lassen. Aber auch in Deutschland selbst gibt es genügend Hindernisse für ungestörtes Geradeausfahren, hauptsächlich in Form von Hügeln, Bergen und anderen Erderhebungen.

PDF Download
Doch der Mensch hat immer wieder versucht, diesem Naturschauspiel mit Erfindergeist etwas entgegenzusetzen. Bei Bergen hieß das zuerst oben drüber. Die Namen der Passstraßen gleichen Legenden, die Verkehrsmeldungen waren voll davon. Ob man den Brennerpass befahren wollte, ob Flüela- oder Furkapass, ob St. Gotthard oder die Großglockner Hochalpenstraße, am Ende vielleicht den San Bernardino, alle Namen wirken heute noch nach wie Donnerhall. Pures Abenteuer mit unvergesslichem Naturerlebnis, das sind die Erinnerungen an sich endlos schlängelnde Serpentinen bergauf und -runter. So schafft man es autofahrerisch beim höchsten Pass der Alpen, dem Col de la Bonette, immerhin auf 2.802 Meter, gefolgt vom Col de l’Iseran (2.770 m) und dem Stilfser Joch (2.758 m).
Mit diesen Zahlen sollten wir Europäer uns aber nicht allzu viel einbilden. Der höchste Pass der Welt ist der Kardong La nah in Indien mit 5.606 Metern, also locker mal mehr als das doppelte des Col de la Bonette. Da wird nicht nur die Luft sehr dünn …
Um dem Ungemach der schweren Bergüberquerung ein Ende zu bereiten, begann man mit dem Tunnelbau. Den ersten „Straßentunnel“ sollen in der Tat die Etrusker im sechsten Jahrhundert vor Christus in den Albaner Bergen gebaut haben. Der erste Tunnel durch die Alpen war der Col de Tende (Colle di Tenda) im Jahre 1882, seitdem hat sich der Tunnelbau in ganz andere Dimensionen vorgebohrt. Der längste Vertreter dieser Gattung dürfte wohl der Lærdaltunnel in Norwegen sein, der es auf stattliche 24,5 Kilometer bringt. Mit dem Bau von Autobahnen wurde der Tunnelbau nach dem Zweiten Weltkrieg erst richtig angefacht. Straßenfahrzeuge können größere Steigungen bewältigen als Schienenfahrzeuge („Adhäsionsbahnen“), und sie können engere Kurven befahren. Da ist einfach der Spielraum für den Bau größer.
Wer die Baukunst mal bis zur Vollendung miterleben möchte, der sei auf den „Spiraltunnel“ von Drammen in Norwegen verwiesen. In diesem Straßen- Wendetunnel dreht man sich gar 5¾-mal um die eigene Achse, bevor man die Ausfahrt erreicht. Letztes Jahr hatte ich das Vergnügen, den mit 57 Kilometern bei Inbetriebnahme im Dezember 2016 längsten Eisenbahntunnel der Welt zu besichtigen, den Gotthard-Basistunnel. Auf halber Strecke gibt es einen Auslass, durch den wir hereingebracht wurden. Ansonsten geht es schnurstracks durch den Fels. Wer meint, da unten wäre es kalt, der irrt gewaltig. Schweißgebadet bewegt man sich durch die spärlich beleuchteten Röhren, zwei Kilometer Bergmassiv über einem. Die Sauerstoffnotversorgung immer im Rucksack dabei, das ist eines der Hauptprobleme dieser Extremtunnel. Und damit nicht genug. Ab 2030 soll durch den Bau des Axentunnels das Ganze nochmals auf 75 Kilometer ausgedehnt werden.
Der Bau dieser unterirdischen Verkehrswege ist wissenschaftlich äußerst interessant, da unter Tage die üblichen Positionsbestimmungen (wie GPS) wegfallen. Da der Stollen von zwei Seiten vorangetrieben wird, möchte man am Ende nicht vor dem aus einem Werbespot bekannten „Chef, wir haben ein Problem …“ stehen. Das ist hohe Ingenieurskunst.

Aktuelles Magazin
Ausgabe 3/2015

Sonderausgabe Elektro
Das neue Jahresspecial Elektromobilität.
Vor Jahren habe ich für eine Konferenz Tromsø in Nordnorwegen besucht. Deutlich oberhalb des nördlichen Polarkreises wartet die Stadt mit einigen wenig bekannten Superlativen auf. Man findet dort die nördlichste Kirche der Welt („Nordmeerkathedrale“), die nördlichste Universität und sogar die nördlichste Brauerei („Mack-Øl“). Wie bei uns Steaks oder Bratwürste werden dort Seelöwe und Wal gegrillt. Das kann man dann auch bei Mitternachtssonne genießen ... Beeindruckender aber war das Verkehrsnetz unter Tage, ein Tunnelbauwerk mit Kreisverkehren und allen anderen Zutaten. Im Winter ist es dort sowieso ständig dunkel, aber im Tunnel liegt eben kein Schnee …
In Deutschland sind wir da tunneltechnisch nicht so sehr verwöhnt, schaffen wir es mit unserem Spitzenreiter „Rennsteigtunnel“ (A71) gerade mal auf knapp acht Kilometer. Danach kommt lange nichts, bis die Königshainer Berge bei Waldhufen (A4, 3.300 m) und natürlich der allgegenwärtige Elbtunnel (3.325 m) folgen. Welche Mythen ranken sich nicht um dieses legendäre Bauwerk, ja es gibt sogar spezielle „Elbtunnel-Effekte“. Fährt man nämlich in den Tunnel hinein, so muss man schon sehr genau hinschauen, um das Markierungsdreieck für den tiefsten Punkt wahrzunehmen. Das Fatale ist, dass man gar nicht mitbekommt, ob man bergab oder bergauf fährt. Da man allerdings bergauf mehr Gas geben müsste, um die Geschwindigkeit zu halten, entsteht regelmäßig Stau dadurch, dass Einzelne dies nicht realisieren und den Rest hinter sich ausbremsen. Selbst an den Wandkacheln kann man nicht feststellen, ob es runter- oder raufgeht, da sie parallel zur Fahrbahn angebracht sind. Leider hat man es nach der Wiedervereinigung versäumt, auch im Westen größere Autobahnbauprojekte anzugehen.
Die nordwestliche Umfahrung Hamburgs über die A20 mit Elbquerung bei Glückstadt wird heute schmerzlich vermisst und der gesamte Nordverkehr muss sich, wenn nicht mit einer Fähre oder über die Stadtbrücken Hamburgs ausgewichen wird, durch die Elbtunnelröhren zwängen.
Der Tunnelbau hat naturgemäß in den verschiedenen Regionen der Welt sehr unterschiedliche Ausformungen erreicht. Es gibt sogar Länder in Europa, wo fast kein Kilometer Straße ohne Brücke oder Tunnel auskommt, siehe Österreich oder die Schweiz. Während Brücken allerdings normalerweise einen mehr oder weniger famosen Blick auf die darunter liegende Natur ermöglichen, so haben Tunnel genau den gegenteiligen Effekt von totaler Einengung und Sichtversperrung. Das führt auf ganz natürliche Weise zu den bekannten klaustrophobischen Anwandlungen. Immerhin sind über 5 Prozent der Bevölkerung von der „Platzangst“ betroffen.
Daher haben viele Menschen einfach Angst vor dem Befahren eines Tunnels. Alleine schon das Verkehrszeichen 327 für „Straßentunnel“ lässt einen mit dem schwarzen Loch in der Mitte Schlimmes erwarten. Da war kein Psychologe mit an Bord, als dieses Zeichen mal entworfen wurde. Immerhin gibt es so sinnige Vorgaben wie die Pflicht, ab einer Tunnellänge von 400 Metern die genaue Länge und den Namen (!) des Tunnels anzugeben. Das schafft doch Vertrauen! Ebenso ist bei Tunnellängen über drei Kilometer bei jedem Kilometer die noch verbleibende Länge anzuzeigen.
Das Tunnelzeichen 327 hat aber noch andere Konsequenzen. So ist das Abblendlicht (nicht das Tagfahrlicht) selbst bei ausreichender Beleuchtung im Tunnel einzuschalten und es ist erstaunlicherweise verboten, im Tunnel zu wenden oder gar rückwärts zu fahren. Man darf auch nicht anhalten, in Notfällen und bei Pannen sind die entsprechenden Haltebuchten zu benutzen. Wenn man es denn bis dorthin überhaupt schafft.
Untrennbar aber sind die Tunnel mit dramatischen Unfällen verknüpft. Meistens sind Brände die Ursache für die Unglücke mit häufig vielen Toten. So führte beispielsweise eine weggeworfene Zigarettenkippe 1999 zum Brand eines mit Mehl und Margarine beladenen belgischen Lkw im Mont- Blanc-Tunnel. In der Folge ließen 41 Menschen ihr Leben, es dauerte alleine 53 Stunden, bis der Brand unter Kontrolle gebracht werden konnte. Bei Temperaturen bis 1.200 Grad Celsius stürzen dann sogar Betonplatten und Gesteinsbrocken von der Decke. Der Tunnel wurde danach für drei Jahre gesperrt.
Im gleichen Jahr gab es im Tauerntunnel durch einen Auffahrunfall, verursacht durch den Sekundenschlaf eines Lkw-Fahrers, einen verheerenden Brand mit zwölf Todesopfern. Immer wieder war auch der Gotthard-Tunnel Schauplatz von Tragödien. So auch 2001 beim Frontalzusammenstoß zweier Lkw auf der A2 zwischen Göschenen und Airolo mit nachfolgendem Brand: Elf Menschen sterben bei diesem Unglück.
Regelmäßig wurde dann über die Sicherheit der Tunnelbauwerke diskutiert und die Richtlinien wurden verschärft. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Entfluchtungsmöglichkeiten und der Entrauchung. In Deutschland gibt es die RABT („Richtlinie für die Ausstattung und den Betrieb von Straßentunneln“). So soll es alle 600 Meter Pannenbuchten geben und alle 150 Meter Notrufstationen. In der Regel ist die Höchstgeschwindigkeit in Autobahntunneln auf 80 km/h begrenzt, es gibt aber auch Ausnahmen mit 100 km/h.
Die Tunnelsituation bedeutet aber an sich schon Stress. Die Nähe der Wände wird vielfach schon als bedrohlich angesehen. Die Dunkelheit tut ein Übriges dazu. Letztlich aber ist alleine schon die Akustik beängstigend, man ist froh, wenn das Licht am Ende des Tunnels endlich sichtbar wird. Passiert aber ein Unfall, ist alle Theorie grau. So empfiehlt die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) in einer Informationsschrift zur Sicherheit in Straßentunneln, das Warnblinklicht einzuschalten, den Motor abzustellen, den Zündschlüssel stecken zu lassen, die Unfallstelle abzusichern und Erste Hilfe zu leisten. Wie man sich aber selbst rettet, bleibt der eigenen Fantasie vorbehalten. Viele Möglichkeiten bleiben einem da nicht.
So bleiben die Tunnel Segen und Fluch der automobilen Gesellschaft. Einfach unten durch die Alpen zu fahren, hat die Urlaubsorte in Südeuropa in die Erreichbarkeit einer Tagestour gerückt. Immer neuere Technik hat die Bauwerke zunehmend monumentaler ausgestaltet. Die Bauprojekte verschlingen Milliarden und sind auf Jahrzehnte angelegt. Langsam aber entsteht jenseits der maroden Brücken ein Bewusstsein für marode Tunnel. Auch dort bröckelt der Beton, insbesondere bei den Bahntunneln.
Der Jugend von heute ist das weitgehend egal, hat sie doch ihre eigene Vorstellung von Tunneln. Die sind nämlich nicht aus Beton, sondern aus Stahl, Titan, Kristall, Kunststoff oder einfach Holz. Dabei handelt es sich schlicht um Piercings im Ohrläppchen, also lochartige Öffnungen von 1 mm bis zu sage und schreibe 5–6 cm! Da bekommt man auch einen Tunnelblick, allerdings der etwas anderen Art. Wie auch immer der Tunnel geartet ist, am Ende empfängt uns dann hoffentlich das Licht.
AUTOR
PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein- Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

Aktuelles Magazin
Ausgabe 3/2015

Sonderausgabe Elektro
Das neue Jahresspecial Elektromobilität.
Der nächste „Flotte!
Der Branchentreff" 2026
0 Kommentare
Zeichenbegrenzung: 0/2000