Buße aus dem Katalog
Einschneidende Maßnahmen im Verkehrssektor sind außerordentlich selten. Umso mehr werden die dann tatsächlich stattfindenden Umstrukturierungen zur Kenntnis genommen und natürlich kontrovers diskutiert. So ist auch die Neuordnung der „Verkehrssünderdatei“ in Flensburg als ein solcher „Meilenstein“ in der deutschen Verkehrsgeschichte einzuordnen. Dabei macht die Historie nicht mal halt vor den seinerzeit amtierenden Bundesverkehrsministern, mit dem Ergebnis, dass erst der Nachfolger letztendlich die „Früchte“ seines Vorgängers ernten kann. In diesem Falle bleibt die Ernte jedoch im gleichen (CSU-)Hause. Ist doch auch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) fest in bayerischer Hand.

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Dabei ist die Geschichte der Strafzahlungen gar nicht mal so lang, wie man vermuten möchte. Denn erst am 13. November 2001 wurde bundeseinheitlich der Bußgeldkatalog (als Anlage zur Bußgeldkatalog-Verordnung BKatV) beschlossen und am 1. Januar 2002 in Kraft gesetzt. Zuvor hatten die verschiedenen Bundesländer eigene Regelungen unterschiedlicher Schärfe. Allerdings gibt es trotzdem bis heute abweichende Auslegungen, nicht was die Höhe der Bußgelder angeht, sondern die Verhängung von Fahrverboten. Denn von einem Fahrverbot kann nur dann abgesehen werden, wenn eine „Existenzvernichtung“ droht. Doch der Nachweis eines solchen anstehenden Untergangs ist naturgemäß schwierig und die Hoffnung, mit einer erhöhten Geldbuße davonzukommen, häufig trügerisch. Bayern erweist sich in diesem Umfeld anscheinend wiederum als besonders harte Nuss.
Dabei geht es für den Verkehrsteilnehmer ja letztendlich um eine ganze Menge, wenn es sich um den Führerschein dreht. Der Entzug desselben ist, laut psychologischen Untersuchungen, nach der Trennung vom Partner, der schlimmste Verlust, gleichbedeutend mit einer Amputation. Das Auto als verlängerter Arm, als zusätzliche Extremität. Verlustängste spielen dabei eben keine unbedeutende Rolle. Für das Motorrad gibt es da sogar eine sehr interessante Fachlektüre („Die obere Hälfte des Motorrads“ von Bernt Spiegel, Untertitel: Über die Einheit von Mensch und Maschine).
Eindrucksvoll wird einem diese Angst vor der „Immobilität“ bei älteren Fahrern vor Augen geführt, wenn körperliche Gebrechen das Führen eines Automobils eigentlich nicht mehr zulassen. Die dazu notwendige Einsicht kommt aber häufig leider sehr, wenn nicht zu spät. In anderen Ländern ist daher ab einem gewissen Alter ein regelmäßiger Nachweis der Fahrtüchtigkeit vorgeschrieben. Auch in dieser Hinsicht sticht Deutschland da aus der europäischen Masse heraus.
Mit der am 1. Februar 2009 in Kraft getretenen Verschärfung des Bußgeldkatalogs wollte man ganz gezielt einen Rückgang der Verkehrstoten erreichen. Daher wurden die Strafen, insbesondere für relevante Vergehen wie gefährliche Überholvorgänge, zu geringer (Sicherheits-) Abstand oder Missachten der Vorfahrt, deutlich erhöht. Auch Rotlicht-Verstöße, in welchem Milieu auch immer, sollten härter geahndet werden. Zudem stand auf der schwarzen Liste die nicht angepasste Geschwindigkeit, wobei diese zu kontrollieren und zu ahnden sich allerdings als äußerst schwierig herausstellt.
Aber sie führt zu einem Vielfachen an Unfällen im Vergleich zu überhöhter Geschwindigkeit. Dennoch steht lediglich Letztere im Fokus der Blitzer-Marathons, die demzufolge nicht das eigentliche Problem angehen.

Aktuelles Magazin
Ausgabe 3/2014

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Konterkariert wurde die Verschärfung von 2009 durch die Entwicklung der Zahl der Verkehrstoten im Jahre 2011: Zum ersten Mal seit 20 Jahren gab es wieder einen Anstieg, und zwar einen deutlichen um fast zehn Prozent auf knapp 4.000. Ziel knapp verfehlt, könnte man dazu sagen. Darüber redet heute eigentlich keiner mehr, alldieweil die Zahlen für 2012 und 2013 deutlich rückläufig sind, sozusagen zurück auf den ohnehin zu verzeichnenden Trend aufgrund ständig wachsender Sicherheitstechnik in den Fahrzeugen. Mit gestiegener Einsicht der Verkehrsteilnehmer hat das reichlich wenig zu tun. Die Zahlen aus 2011 sind, so gängige Erklärungen, dem guten Wetter geschuldet: Da wird mehr und riskanter gefahren, vor allem im Zweiradsektor.
Die neuerliche „Sanierung“ des Bußgeldkataloges hat nun in der Tat mehrere Ziele. Schaut man sich auf den Seiten des Kraftfahrt-Bundesamtes um, so muss man als Nichtjurist erst mal schwer schlucken (um Gottes willen danach nicht fahren!), denn man lernt dort, dass zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes (angehängt wird dann noch der Zusatz „und anderer Gesetze“) unbedingt ein eigenes Gesetz (und schon das fünfte!) her muss. Dies geschah bereits im August 2013. Man lernt aber noch mehr, und es geschah noch mehr. Denn zur Änderung einer Verordnung reicht anscheinend dann doch (lediglich) eine Verordnung aus. Ist doch ganz einfach. So wurde im November 2013 die allseits (un-)bekannte und (un-)beliebte „Fahrerlaubnis- Verordnung (FeV)“ (sowie wiederum irgendwelche anderen „straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften“) einfach mal geändert.
Nun müsste man wissen, was da eigentlich drinsteht. Selbst dem jahrzehntelang vor sich hin cruisenden Otto Super- oder Dieselverbraucher wird dies wahrscheinlich für ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben (der bekannte Otto Normalverbraucher hat ja auf der Straße sowieso ausgedient, übrigens wurde er seinerzeit durch den Film „Berliner Ballade“ von 1948 in der Person von Gert Fröbe populär gemacht). Die Sache mit den sieben Siegeln ist auch ganz gut so, denn die Bibel (Offenbarung des Johannes) lehrt uns, dass nach dem Öffnen des siebten Siegels die Apokalypse ausgelöst wird, nun denn …
In dem verkehrlichen Monumentalwerk „FeV“, das im August 1998 die Straßen der Republik erblickte, steht nun so ziemlich alles drin, was den Fahrer, seine Fähigkeiten und seine (Un-)Rechte angeht. Ja, es ist dort auch die sagenumwobene MPU (medizinisch-psychologische Untersuchung) detailliert als Folterinstrument (Anlage 15) beschrieben.
Dass es auch anders geht, eben ohne die „FeV“, zeigt ein gerade ruchbar gewordener Fall eines 68-Jährigen aus Frechen bei Köln, der sage und schreibe 44 Jahre ohne Lappen unbehelligt unterwegs war. Er hatte 1970 seine Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit im Verkehr verloren und es seitdem, sagen wir mal: versäumt, diese neu zu beantragen. Unbekannt bleiben allerdings die zurückgelegten Kilometer und das damit einherfahrende Risiko der Entdeckung. Böse Zungen meinen ja, das umgangssprachliche „Durch-die- Lappen-Gehen“ (in dem Falle besser: fahren) käme daher (und nicht von den Rentieren)!
Die Ziele der Neuorientierung der Bußgelder und Punktevergabe sind bei genauem Hinsehen die Fokussierung auf die Verkehrssicherheit und eine Vereinfachung beim Punktezählen durch Beschränkung auf den Zahlenraum bis acht (siehe Kolumne Flottenmanagement 2/2012). Vielleicht geht das ja einher mit unserer schulischen Beschränkung auf G8 und die damit größer werdenden Defizite in der mathematischen Grundausbildung. Gerade werden ja immense Anstrengungen unternommen, zu G9 zurückzukehren (allerdings wohl ohne Erfolg). Die Abiturienten wissen am Ende von G8 gar nicht, was sie nun eigentlich machen sollen mit der gewonnenen Zeit. Die wird dann zur „Sinnsuche“ verwendet, ohne dass am Ende ein Gewinn dabei herauskommt. Vielleicht aber wäre die Rückkehr zu G9 dann ein Anlass, eine weitere Überarbeitung der Punktetabelle vorzunehmen und wieder auf neun zu erhöhen … Allerdings ist die „8“ auch eine magische Zahl, sie wird auch gerne als die Schwester der Unendlichkeit bezeichnet. Denn wenn man sie ein wenig „kippt“, kommt das dafür übliche mathematische Zeichen heraus: „∞“. Das wiederum würde für manchen Autofahrer eine echte Chance bedeuten. Dies sollte man dann aber tatsächlich der MPU vorbehalten und vielleicht den Nachweis von zwei Semestern Mathematik vorsehen …
Wie nach jeder Wahl der Zuschnitt und die Namen der Ministerien neu gestaltet werden, so muss man natürlich bei einer solchen Neuerung auch dem Kinde einen anderen Namen geben. Also hat man das altgediente „Verkehrszentralregister (VZR)“ ab 1. Mai 2014 auf das „Fahreignungsregister (FAER)“ mit einem eigenen Fahreignungs- Bewertungssystem umgestellt. Eine ganz wesentliche Änderung für den Verkehrsteilnehmer ergibt sich jedenfalls daraus: Die Bußgelder werden von der Punktevergabe abgekoppelt. Die Strafen sind nun teilweise drastisch erhöht, aber Punkte gibt es erst ab 60 Euro (vorher 40 Euro) und auch nur für „Vergehen“, die die Verkehrssicherheit gefährden.
Das Tollste ist jedoch (und da kann sich eine Reihe von „Tätern“ auf die Schenkel klopfen), dass die Punkte für jetzt nicht mehr (mit Punkten!) geahndete Untaten einfach entfallen. Und da sind tolle Sachen dabei. Hauptsache, sie gefährden nicht die Verkehrssicherheit, kosten tun sie aber trotzdem. So ist das unberechtigte Befahren von Umweltzonen, die Verletzung von Sonntagsfahrverboten oder der Kennzeichenvorschriften, aber auch die Beleidigung anderer Verkehrsteilnehmer ohne Punkteeintrag möglich. Vorher war das anders, und es sind, nach Rückfrage beim Kraftfahrt- Bundesamt, rund 141.000 Autofahrer auf diesem Wege komplett punktefrei geworden. Allerdings, muss man einschränkend sagen, es stehen immer noch geschätzte mehr als 8.700.000 arme Sünderlein in Flensburg in den Akten. Zum 1. Januar 2013 waren es noch mehr als neun Millionen, davon sieben Millionen Männer und zwei Millionen Frauen. Knapp 57 Prozent haben dies zu hoher Geschwindigkeit zu verdanken.
Man kann es sogar schaffen, mit einem Alter von weniger als 17 einen Eintrag zu bekommen, allerdings sollte man das für Strafmündigkeit relevante Lebensjahr von 14 vollendet haben. Dies sollen tatsächlich rund 9.000 männliche und 1.000 weibliche Jugendliche geschafft haben. Wie genau, das bleibt ein Geheimnis. Da bekommt der angehende Autofahrer dann schon mal Schwierigkeiten, überhaupt einen Führerschein zu machen. Allerdings stelle man sich den jungen Radfahrer nach mehrmaligem Überfahren einer roten Ampel mit acht Punkten vor. Darf der dann auch kein Rad mehr fahren
Markanter Unterschied zu vorher ist jetzt auch die Verweildauer eines Eintrages. Es gibt nun starre Fristen von 2,5 bis zehn Jahre, also keine Verlängerung durch eine weitere Tat. Da kann man sich jetzt schön einen Plan zurechtlegen, wie viel man sich im laufenden Jahr so erlauben kann.
Überhaupt wird das Allerallermeiste ja überhaupt nicht geahndet. Streng genommen haben wir es daher mit einem massiven Fall von Bußgeldhinterziehung zu tun! Mich wundert es, dass hier noch nicht über Selbstanzeigen mit in Aussicht gestellter Straffreiheit nachgedacht worden ist. Man könnte ja dann von den Punkten verschont bleiben und nur das Bußgeld zahlen müssen …
Denn was ein einzelner Verkehrsteilnehmer in seinem Berufsleben da so zusammenfahren kann, ist schon aller Ehre wert. Man kann sich ja mal aus Spaß so ein tägliches Menü von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten zusammenstellen. Da muss man nicht mal von Rotlicht-Verstößen oder sonstigen schwereren Taten ausgehen, um auf erkleckliche Summen zu kommen. Ein täglicher Pendler hat beispielsweise je zweimal am Tag bei Tempo über 80 km/h weniger als 20 Meter Abstand (150 €) sowie bei Tempo über 130 km/h weniger als 30 Meter (200 €) dazu je viermal mehr als 20 km/h zu schnell in geschlossener Ortschaft (320 €) sowie auf der Autobahn (280 €) und schließlich fünfmal den Blinker nicht gesetzt (50 €). Keine Tat alleine kostet mehr als einen Punkt. Macht in der Summe 1.000 €, leider aber auch zwölf Punkte – und das jeden Tag!
Bei 220 Arbeitstagen pro Jahr und einem erfüllten Arbeitsleben mit 45 Jahren Dauer kommt man so auf wahrhaft Hoeneß’sche Dimensionen von 9.900.000 €. Der Urlaubs- und sonstige Verkehr mit seinen Verstößen noch nicht einmal mitgerechnet. Einmal im Rechenwahn, kommt man pro Jahr bei zehn Millionen Autofahrern auf die unsägliche Summe von 2,2 Billionen Euro. Damit wären jedenfalls alle Probleme der Straßen- und Brückensanierung locker zu stemmen. Warum ist nur noch niemand auf diese Idee gekommen
Autor
Professor Dr. Michael Schreckenberg, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg- Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Online-Verkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein- Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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