Der Stau ist schlau!
Er kommt gerne dann, wenn man nicht mit ihm rechnet (und ihn gerade auch nicht gebrauchen kann) und taucht genau dann nicht auf, wenn man mit ihm rechnet: der Stau. Sein Wesen scheint manchmal unergründlich zu sein, und er scheint tatsächlich ein Wesen zu sein. Als ob hinter den Kulissen heimlich Fäden gesponnen würden, um uns, die Verkehrsteilnehmer, zu verwirren.

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Selbst die Wissenschaft streitet sich bisweilen darüber, was eigentlich ein „Stau“ ist. Hat er notwendigerweise mit Stillstand zu tun, oder reicht es, wenn andere Fahrzeuge mich zur Langsamfahrt zwingen? Die Diskussion über LKW-Überholverbote kommt immer wieder auf das Argument, dadurch würden Staus vermieden. Wenn ich aber nur 80 anstatt 120 km/h fahren kann wegen überholender LKWs, ist das dann wirklich als Stau zu bezeichnen? Ich meine nein. Man verliert dadurch Zeit und kann sich nicht so auf der Straße bewegen, wie man möchte, mehr ist es dann aber nicht.
Ursprünglich kommt das Wort Stau nicht von dem passiven, sich nicht (vorwärts) bewegen können, sondern von dem aktiven Verb stauen: „(Wasser) im Lauf hemmen“ und „(Waren) fest schichten“. Daraus wurde dann Stau als „Stillstand des Wassers“. Das verwandte Verstauen („fest einpacken“) stammt übrigens aus der Seemannssprache des 19. Jahrhunderts, wobei der „Stauer“ die Schiffsladungen ‚staut’.
Heute stellt sich das Thema Stau deutlich anders, ja genau umgekehrt dar. Nicht wir stauen oder verstauen etwas, sondern wir selbst werden „gestaut“. So sind wir vom Täter zum Opfer geworden. Und das ärgert uns. Mit allen technischen und wissenschaftlichen Mitteln versuchen wir, wieder Herr über den Stau zu werden, häufig mit zweifelhaften Erfolgsaussichten. Doch Stau ist etwas ganz Natürliches, überall in der Natur ist er präsent.
Ob Kieselsteine, Körner, Sand, ob Ameisen, Mikroben oder Tiere auf dem Weg zur Wasserstelle, überall behindert eins das andere, ohne die anderen gäbe es keine Probleme. So ärgern wir uns hauptsächlich über die anderen, die uns am Fortkommen hindern, doch am Ende sind wir alle der Stau, auch wir selbst.
Die Psychologie im Stau ist immer die gleiche: Zuerst ärgern wir uns über all die anderen, die uns behindern, ja wir werden aggressiv. Doch wenn alles nichts nützt, fallen wir in den Sitz zurück, und lassen uns treiben, wir werden ein wenig depressiv. Der Termin ist nicht zu halten, es muss neu geplant werden. Das trifft hauptsächlich auf die Berufs- und Wirtschaftsverkehre zu, auf der Fahrt in den Urlaub ist die Zeitvorgabe nicht so hart (außer man muss eine Fähre erreichen, wie ich diesen Sommer). Am Ende, bei der Ausfahrt aus dem Stau, fühlt man sich fast wie neugeboren, und ändern können hätte man am Stau nichts.

Aktuelles Magazin
Ausgabe 4/2008

Sonderausgabe Elektro
Das neue Jahresspecial Elektromobilität.
Bei uns entstehen Staus aus unterschiedlichen Gründen: Baustellen, Unfälle, widrige Wetterbedingungen, hauptsächlich aber durch Überlastung. Die Zahlen dazu variieren stark, so zwischen 60 und 70 Prozent der Staus in Ballungsräumen entstehen durch letzteren.
Wie entsteht in einem solchen Fall der Stau dann aber genau? Und gibt es verschiedene Arten von Stau? Die Wissenschaft hat dazu in den letzten zehn Jahren eine Menge herausgefunden. So ist der „Stau aus dem Nichts“ eigentlich eine Illusion. Einen Grund gibt es immer.
Bei dichter werdendem Verkehr, also vor Auffahrten oder Steigungsstrecken, entwickelt sich zuerst zähfließender, wissenschaftlich „synchronisierter“, Verkehr, der sich nur noch mit 10 bis 30 km/h bewegt. Der sich in den Sitz zurück fallen lassende Fahrer fließt dann recht gleichförmig in der Masse mit, eine Art Synchronisation, auch zwischen den verschiedenen Spuren, setzt ein. Allerdings ist dort der Durchsatz so hoch wie bei gut funktionierendem freien Verkehr (wo sich die Fahrzeuge untereinander nicht wesentlich behindern). Der Übergang findet situationsabhängig so bei 1.500 bis 1.800 Fahrzeugen pro Stunde und Spur statt, dort wird der Verkehr dann instabil.
Kommt es in dem zähfließenden Bereich dann, aus welchen Gründen auch immer (Unaufmerksamkeit, Überreaktion, Spurwechsel et cetera) zu weiteren Abbremsmanövern, ja sogar zum Stillstand einzelner Fahrzeuge und müssen deshalb dann auch andere stehen bleiben, so entsteht eine Stauwelle, die sich aus dem zähfließenden Bereich, der ja an die Auffahrt oder Steigung gekoppelt ist und daher räumlich fest ist, mit circa 15 km/h nach hinten, also stromaufwärts, herausbewegt. Diese Welle wächst, so lange der Zufluss von hinten größer ist als der Abfluss nach vorne.
Beim Anfahren werden pro Fahrzeug circa 2 Sekunden verloren, sind die Zeitabstände beim Hereinfahren also kleiner, wird die Stauwelle immer länger. Man sollte hier bemerken, dass der Sicherheitsabstand „halber Tacho“ einen (geschwindigkeitsunabhängigen!) Zeitabstand von 1,8 Sekunden bedeuten würde. Dies entpuppt sich durch einfache Messung der realen Zeitabstände auf der Autobahn schnell als Illusion: eine Sekunde und weniger ist häufig festzustellen. Damit geht ein hohes Sicherheitsrisiko einher!
Die Stauwelle macht sich nun auf den Weg, fährt rückwärts über die Autobahnen, wechselt sie, ebenfalls rückwärts, über die Rampen, und bleibt solange erhalten, bis der Zufluss von hinten nachlässt. Das kann eine Stunde oder sogar noch mehr bedeuten. Schlimmer noch, der zähfließende Bereich wirkt nun wie eine Pumpe: eine Stauwelle nach der anderen wird nach hinten abgestoßen. Man kennt das: kaum aus einem Stau heraus sieht man das nächste Stauende vor sich.
Und einem selbst begegnet dann irgendwo auf eigentlich freier Strecke eine solche Stauwelle und ihre Nachfolger, es entsteht der Eindruck eines „Staus aus dem Nichts“. Doch, wie wir gesehen haben, gibt es am Ende doch einen Grund. Und im zähfließenden Verkehr passiert noch eine ganze Menge mehr, ein Spektrum an Stauphänomenen, deren Beschreibung den Rahmen hier jedoch sprengen würde.
Doch auch die Stauwellen haben eine innere Dynamik, so um die 10 km/h schafft man durch Stopp-and-Go Verkehr in ihnen. Dies ist nervenaufreibend und veranlasst viele dann, auch auf Anraten ihres Navigationsgerätes, schnell das Weite zu suchen. Allerdings häufig mit zweifelhaftem Erfolg: die Zeit vergeht zwar schneller beim Fahren über Land, am Ende wäre aber der Stopp-and-Go Verkehr, bei dem die Zeit zäh wie Honig fließt, doch effektiver gewesen. Nur im Nachhinein weiß man es nicht und freut sich trotzdem über die „kluge“ Entscheidung, die Autobahn verlassen zu haben.
Es kursieren viele Zahlen zu den Auswirkungen von Staus. So wurde zuletzt festgestellt, jeder Deutsche stünde im Schnitt 58 Stunden pro Jahr im Stau. Wo dieser dann genau stattfindet, ob in der Stadt, auf der Landstraße oder auf der Autobahn, war nicht so ganz klar, die Zahl sollte wohl auch nur einen gewissen Anhaltspunkt geben. Hochgerechnet auf alle Deutschen würde das insgesamt 535.000 Jahre pro Jahr für alle im Stau bedeuten. Eine unermessliche Zahl, wenn man nur daran denkt, was in dieser Zeit alles geschafft werden könnte!
Nach einer Anfrage der FDP an die Bundesregierung, was denn der Stau insgesamt volkswirtschaftlich koste, einigte man sich auf 10 bis 12 Milliarden Euro pro Jahr, zuvor kursierten deutlich höhere Zahlen (bis über 100 Milliarden Euro). In einem Streiflicht der Süddeutschen Zeitung wurde dann darüber philosophiert, ob man die Schuldigen daran, jenseits von Baustellen und Unfällen, nicht einfach ausfindig machen und zur Kasse bitten könne.
Interessanterweise wurde dort dann vorgeschlagen, die stauauslösenden Bremser mit Hilfe des „Nagel-Schreckenberg-Modells“ zu ermitteln, eines abstrakten mathematischen Modells zur Simulation von Stauentstehung aus dem Nichts, dass ich Anfang der 90-er Jahre zusammen mit Kai Nagel, heute Professor an der TU Berlin, veröffentlicht hatte. Umso erstaunter war ich schließlich, als vor einiger Zeit Oliver Pocher in der Prominentenausgabe von „Wer wird Millionär“ als Millionenfrage eben dieses Nagel- Schreckenberg-Modell von Günther Jauch serviert bekam. Ob dieses Modell eine Erklärung für die Entstehung von Sandwüsten, Verkehrstaus, Grippewellen oder Börsencrashs liefert, war die genaue Frage. Oliver Pocher beantwortete sie mit einigem eigenen Wissen richtig (er hatte noch den Publikumsjoker!) und gewann als ersten Prominenter die Million.
Das dieses Modell aber nicht nur akademischer Natur ist, beweist es jeden Tag auf den Seiten www.autobahn.nrw.de, wo mit seiner Hilfe (richtiger der Hilfe von darauf aufbauenden Nachfolgemodellen) die Verkehrslage und -prognose (30 und 60 Minuten) für das Autobahnnetzwerk in NRW berechnet wird.
Man kann daraus auch viele Tipps für das Verhalten im Stau ableiten, wie beispielsweise die vielen Spurwechsel vermeiden, das Reißverschlussverfahren so durchzuführen, wie es gedacht ist oder nicht immer die Lücke zum Vordermann zu schließen aus Angst, dass einer dort hinein wechselt. Einfach in Bewegung bleiben ist ein guter Grundsatz, damit erspart man sich und den anderen die zwei Sekunden Zeitverzögerung beim Anfahren, das summiert sich kräftig auf!
Kann man dem Stau denn auch etwas Gutes abgewinnen? Man könnte sagen, er verschreibt Autofahrern bei zu langen Urlaubsfahrten quasi Verschnaufpausen, zwingt sie zur Langsamkeit, allerdings mit eingeschränktem Erholungseffekt.
Mich persönlich fasziniert der Stau und all seine Facetten. Und ohne ihn wäre ich heute nicht Professor für Physik von Transport und Verkehr an der Universität Duisburg-Essen, die diese Stelle speziell zu seiner Untersuchung eingerichtet hat. Da gibt es auch in der Zukunft noch viel tun.
Wenn ich denn diesen Sommer wieder mit meiner Familie im Auto in den Urlaub fahre, muss ich allerdings (wie immer) fürchten, dass mein Image als „Stauforscher“ stark beschädigt wird. Denn wann und wo auch immer ich selbst in einen Stau gerate, meine Familie hat dafür gerade bei mir kein Verständnis, ist doch Stau mein Hauptforschungsgebiet und seine Vermeidung meine Wissenschaft. Gibt es einmal keine Staus, wundern sie sich, womit ich mich eigentlich tagtäglich beschäftige.
Was ich auch mache, es ist also immer das Falsche. Der Stau ist halt schlau, aber wir sind (hoffentlich) noch schlauer. Denn am Ende sind wir ja schließlich selbst der Stau.
Prof. Michael Schreckenberg, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt.
Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Online-Verkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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