Geisterstunde
Folgt man dem gemeinen Volksglauben, so sind Geister, auch gerne Gespenster genannt, Wesen ohne jeden materiellen Gehalt. Dafür sind sie aber mit Fähigkeiten ausgestattet, die weit jenseits der uns zugänglichen Möglichkeiten angesiedelt sind. Allerdings werden diesen Fabelgestalten trotzdem durchaus menschliche Eigenschaften zugesprochen. Sie treten auf jeden Fall nur spukhaft auf, meist in der Dunkelheit um Mitternacht herum, der klassischen Geisterstunde.

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Doch leider zeigt sich gerade in der letzten Zeit, dass das angenommene immaterielle Dasein der Geister nur einen horrenden Begriffsschwindel darstellt. Da sind keine „nebelhaft durchsichtigen“ Wesen unterwegs, ebenso wenig handelt es sich um eine „Einbildung der Beobachter“ oder gar um „Halluzinationen“. Da sind Tonnen von Metall unterwegs, und zwar in der ganz falschen Richtung. Auf einer Strecke, wo eigentlich keiner mit Gegenverkehr rechnet. Die Auswirkungen sind, zum Glück nur in jedem zwanzigsten Fall, fatal und folgen ganz einfach den Gesetzen der klassischen Physik, da gibt es leider keine Ausnahmen. Einen naturwissenschaftlichen Beweis von echten „Geistern“ gibt es demgegenüber bis heute nicht.
In der Fachsprache geht es weniger geisterhaft schlicht um „Falschfahrer“. Doch auch dieser Begriff führt gleichermaßen in die Irre. Ich selbst bin des Öfteren „falsch“ unterwegs, ohne dadurch zum Falschfahrer zu werden. Wer zu sehr seinem Navigationsgerät vertraut, kennt diese Situation nur zu gut. So muss man wie so häufig das Kleingedruckte lesen um zu erfahren, dass Falschfahrer „Benutzer einer Autobahn oder einer Straße mit geteilten Richtungsfahrbahnen sind, die entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung fahren“. Die „geteilten Richtungsfahrbahnen“ beziehen sich auf vierspurige Bundes- oder Landstraßen, die entsprechend ausgebaut sind.
Bei der Definition der Falschfahrer hat man sich offensichtlich mehr Mühe gegeben als bei der Beschreibung von Rasern und Dränglern. Auch über diese wird ständig berichtet, aber selbst Mitarbeiter des Bundesverkehrsministeriums konnten mir keine genaueren Angaben zu Aufzucht und Haltung machen, geschweige denn zu gentechnischer Spezifikation. Dies ist umso erstaunlicher, als die schlimmen Folgen des Verhaltens Letzterer wohl deutlich über die der Falschfahrer hinausgehen. Makaber ist zudem die Vorstellung der Vereinigung der beiden Begriffswelten: ein rasender und drängelnder Geisterfahrer …
Als ich diese Kolumne plante, ahnte ich nicht, was an Meldungen zu diesem Thema zum Jahresende noch alles hereinkommen sollte. Innerhalb kürzester Zeit überholte eine Schreckensnachricht die andere. Die dramatische, vor allem mediale Präsenz hat die Aktualität auf äußerst unschöne Weise gesteigert. Man konnte fast von einem „geisterhaften Klimawandel“ auf der Autobahn sprechen.
Zuletzt war das Wendemanöver eines Lkw aus Lettland auf der A1 in der Nähe von Bremen das Schockthema in Sachen Falschfahrer. Ein in der falschen Richtung aufgefahrener Lkw wollte seine gefährliche Fehlentscheidung durch ein drastisches Wendemanöver revidieren. In der Folge blockierte er jedoch dadurch alle drei Spuren und wurde zu einem unüberwindlichen Hindernis, was einem auf der Strecke befindlichen Ehepaar zur tödlichen Falle wurde. Dabei war wohl eine Menge Alkohol in den Adern des Lkw-Fahrers mit unterwegs.
Die Strafen für solcherlei Verhalten sind mittlerweile ebenso drastisch, müssen sie auch sein. Fünf Jahre Gefängnis drohen, ein Kavaliersdelikt ist das jedenfalls nicht mehr. Was also veranlasst Menschen, diese so gefährlichen, ja todbringenden Manöver zu fahren? Gibt es dafür triftige Gründe und nachvollziehbare Erklärungen? Gibt es schlüssige Strategien dagegen? Wie sollte man sich in einem solchen Falle verhalten

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Ausgabe 1/2013

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Es wurden Studien angefertigt, Vermutungen angestellt, verdächtige Bevölkerungsgruppen identifiziert und Maßnahmenkataloge aufgestellt. Allerdings zeigte sich schnell, dass das Problem wesentlich komplexer ist und genauere Analysen erfordert. Es zeigte sich jedoch auch, dass das Geisterfahrer-Problem bei Weitem überschätzt wird. Ein Blick in die Statistiken belegt jedenfalls, dass pro Jahr „nur“ rund zwanzig Menschen durch Geisterfahrer auf Autobahnen ums Leben kommen. In Relation muss man diese Zahl setzen zu den rund 450 Verkehrsopfern jährlich insgesamt auf den gleichen Strecken. Damit sind weniger als fünf Prozent der tödlichen Unfälle Geisterfahrern zuzuschreiben. Nimmt man zum Vergleich noch die Anzahl der Opfer auf Landstraßen von 2.400 hinzu, stellt sich das Problem mathematisch nochmals anders dar. Allerdings sieht die Situation in 2012 etwas dramatischer aus: In nur drei Monaten gab es alleine 24 Verkehrstote durch Geisterfahrer.
Nichtsdestotrotz hat man bei Geisterfahrern in jedem Fall den Eindruck, sie seien „von allen guten Geistern verlassen“. Da sind dann wohl die schlechten Geister unterwegs. In der Tat kann man eine Beziehung zur Geisterstunde herstellen, denn rund die Hälfte der Geisterfahrten findet bei Dunkelheit statt. Auch das Wochenende wirkt dabei besonders anziehend, denn hier findet ebenfalls die Hälfte der Falschfahrten statt. Dies könnte den vorschnellen Schluss zulassen, dass dunkle Wochenenden besonders anfällig für diese Vorkommnisse sind. Aber weit gefehlt. Der ADAC, der sich in besonderer Weise um die Anliegen seiner mittlerweile über 18 Millionen Mitglieder kümmert, konstatierte jüngst, dass August und September besonders „gefährlich“ seien.
Ergänzt wird das Material durch weitere verwirrende Details. Im Osten Deutschlands ist Falschfahren noch nicht so in Mode gekommen. Dort wird wohl auch überhaupt weniger (falsch) gefahren. Unter Verdacht stehen auch in besonderem Maße die Auf-/Abfahrten, die geradezu zum Falschfahren einladen und bei schlechter Sicht eigentlich keine andere Wahl lassen. Immerhin haben wir in Deutschland rund 4.000 davon, genügend Gelegenheit also zum Falschfahren.
Bei der Anzahl der Meldungen über Geisterfahrer aus den Radiostationen spricht man über rund 2.700, davon knapp 2.000 auf den Autobahnen. Bei der weiteren Berechnung kommt dann selbst der ADAC ins Schleudern. Von sieben Falschfahrern täglich auf unseren Autobahnen ist da die Rede, ich komme eher auf fünf. Aber die Arithmetik des Verkehrs ist sowieso eine andere.
Zahlen hin, Zahlen her, wer sind denn nun die Geister auf der (Fern-)Straße? Auch dazu gibt es viele Meldungen und Nachrichten. Da ist dann schnell von Drogen bei jungen Fahrern die Rede (was die Häufung an Wochenenden erklären würde) und von Medikamenten bei Personen ab 75 Jahre aufwärts. Das klingt insgesamt ein wenig klischeehaft, lässt sich andererseits aber auch belegen.
Das Grundproblem ist ein anderes: Ist die Geisterfahrt unabsichtlich passiert oder war Vorsatz mit am Steuer? Dabei ist beim Vorsatz nochmals eine makabere Unterscheidung zu treffen zwischen der Selbstmordabsicht und einer eventuellen Mutprobe. Es wurde sogar der Fall einer 45-jährigen Frau ruchbar, die auf der A94 bei München nach „misslungener“ Geisterfahrt vergeblich versucht hatte, sich in den „fließenden Verkehr“ zu stürzen. Am Ende stand eine Anklage wegen versuchten Mordes.
Nachdem die Presse sich genüsslich über die medienwirksamen Fälle hergemacht hat, werden in einer zweiten Welle Maßnahmen diskutiert, ja zuweilen gefordert. Es wird von „mitdenkenden Autos“ gesprochen, es werden die gefährlichsten Autobahnen (in Bezug auf Falschfahrer) ausgemacht, um dann am Ende wie beim WDR festzustellen: „Kein Patentrezept gegen Falschfahrten in Sicht.“
In der Tat sind alle vorbeugenden Maßnahmen nur von sehr eingeschränkter Wirkung, falls der Fahrer selbst nicht mitmacht. Wenn jemand mitten auf einer Autobahnstrecke einfach wendet, um gegen den Strom zu fahren, ist alle heutige Technik mehr oder weniger machtlos. Allerdings ist diese Methode der Selbsttötung keineswegs empfehlenswert, wie Psychologen berichten, die Erfolgsaussichten sind im Vergleich zu anderen Möglichkeiten einfach viel geringer. Hier spielt dann wohl auch mehr die zu erwartende mediale Resonanz eine Rolle, die ein großer „Crash“ hervorruft. Oft bleiben die wahren Gründe aber leider im Unklaren.
So konzentriert man sich logischerweise auf die „unbewussten“ Falschfahrten. Hier ist mit verschiedenen Maßnahmen durchaus etwas zu erreichen. Besonders intensiv wird dabei nach Österreich geschielt. Dort wird mit auffälligen Warntafeln, ja sogar mit „Reifenkrallen“ gearbeitet. Diese zerstören die Reifen beim Durchfahren in falscher Richtung und lassen demzufolge eine (falsche) Weiterfahrt nicht zu. Die Deutsche Polizeigewerkschaft fordert diese Krallen für praktisch alle Autobahnabfahrten. Allerdings können dann auch keine Rettungsfahrzeuge mehr da durch, die Krallen sind halt nicht sehr clever. Und Deutschland ist locker Österreich mal zehn. Die Technik würde ein irres Geld kosten, was besser woanders investiert gehört.
Die Warntafeln sind da schon eine realistischere Option. In Österreich hat man damit gute Erfahrungen gemacht. Und die zusätzliche Beschilderung wäre zudem bezahlbar. Auch Bodenmarkierungen sind für das suchende Auge gut wahrzunehmen und können klare Hinweise auf Fehlverhalten geben.
Was aber mache ich in einem solchen Fall? Sei es selbst als Geisterfahrer, der dies irgendwann erkennt, oder einfach als Betroffener einer Falschfahrt eines anderen? Im ersten Fall gibt es weitgehend Konsens. Erkennt man das Dilemma und ist nicht lebensmüde, so gibt es nur eins: Sofort rechts ranfahren, am besten auf den mittleren Grünstreifen, alles Licht anmachen, möglichst zur Beifahrertür hin aussteigen und ab über die Leitplanke in Sicherheit. Dann die Polizei verständigen, das Auto steht ja noch da.
Doch nun kommt der andere Fall: Auf meiner Strecke geistert ein Fahrzeug herum, ganz real, nicht immateriell. Diese Mitteilung erhält man am sichersten über Radio, wie der ADAC feststellt, Navis haben da noch deutliche Defizite. Aber was nun tun? Da scheiden sich in der Tat die Geister. Der ADAC rät hier rechts fahren, Tempo verringern und nicht überholen (!). Aber das werden dann andere tun, die nicht informiert sind. Selbst bei verminderter Geschwindigkeit zu meinen, man könnte noch kontrolliert auf den Seitenstreifen vor einer Kollision ausweichen, ist pure Selbstüberschätzung.
Mit der Autobahnpolizei habe ich besprochen, dass das sofortige Anhalten ganz rechts und ebenfalls bis zur Entwarnung hinter der Leitplanke Schutz zu suchen die wohl sicherste Methode für einen selbst ist. Man ist ein wenig an die Situation beim plötzlichen Eindringen in eine Nebelwand erinnert, keiner weiß so genau, was dann zu tun ist. Aber waren Geister nicht auch „nebelhafte“ Wesen? Wie auch immer, für 2013 wünsche ich Ihnen so wenig Spuk auf der Strecke wie eben möglich!
Autor
Professor Michael Schreckenberg, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Online-Verkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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