Das ist ja wohl der Gipfel!

Sobald ein gesellschaftliches Problem nach ungesundem Wachstum und großer Dringlichkeit auf oder gar (oh je!) unter den Nägeln der Volksseele zu brennen beginnt, ist es an der Zeit, darüber in aller Offenheit und Öffentlichkeit zu reden oder gar zu diskutieren. Ersteres ist und bleibt wohl eine Wunschvorstellung, das Zweite wird zumindest teilweise versucht und auch manchmal erreicht.

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Das ist ja wohl der Gipfel!

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Geredet und diskutiert wird dann gerne auf sogenannten Gipfeln. Davon gibt es mittlerweile jede Menge: Ob Steuergipfel (Kirchhof sei Dank, wohl erst im Herbst) , Atomgipfel (nach Fukushima), Friedensgipfel (in Bezug auf die drängenden, kontroversen Fragen der regierenden Koalition), aber auch Elektromobilitätsgipfel (einberufen von der Kanzlerin im Mai letzten Jahres), Verkehrsgipfel (überall und jederzeit) bis hin zum globalen Mobilitätsgipfel (im Mai dieses Jahres in Leipzig), überall trifft man sich, um beim Gipfelsturm mit dabei zu sein.

Im Bereich der Mobilität und des Verkehrs scheinen gerade diese Gipfel aus dem Boden zu sprießen wie Pilze nach einem feuchten Sommer. So bilden sie mittlerweile ein regelrechtes Gebirge, und man verliert relativ schnell den Überblick. In besonderer Weise scheinen sich die schreibenden Medien (zu denen ich ja auch beitrage!) berufen zu fühlen, das Mobilitätsgebirge wie bei der Gebirgsgenese der Erde in die Höhe zu treiben.

Gerade zur Sommerzeit, wenn die alljährlichen Ferienstaus drohen, bekommen die Diskussionen neue Nahrung. Rekordmeldungen des ADAC über eine stetig zunehmende Anzahl an Staumeldungen (185.000 im Jahre 2010 gegenüber 117.000 in 2006) und damit einhergehender Länge (400.000 km in 2010 gegenüber 359.000 in 2006) sind ein guter Nährboden für hitzige Debatten. Die wahren Rekorde kommen aber von woanders her: Der längste Stau am Stück mit 176 km Länge zwischen Paris und Lyon war 1980, die größte Gesamtlänge von Staus in einem zusammenhängenden Straßennetz fand sich 2009 mit 293 km im Großraum Sao Paulo. Ganz zu schweigen von dem 100 km (LKW-)Stau im letzten Jahr über zehn Tage im Norden Chinas auf dem Expressway 109 Richtung Peking, mit einem Tagespensum von sage und schreibe einem Kilometer!

Davon sind wir hier allerdings noch weit entfernt, obwohl sich auf den Autobahnen in NRW am Freitag vor Pfingsten 2004 immerhin 435 km zusammenstauten. Da gerade NRW als Stauland Nr. 1 in Deutschland identifiziert wurde, versucht man dort wie anderswo durch hektisch einberufene Verkehrskonferenzen mit Gesprächen auf die Schnelle dem Problem beizukommen. Zumeist erinnert man sich dann an so bahnbrechende Innovationen wie die „Temporäre Seitenstreifenfreigabe“ (TSF, siehe Flottenmanagement 2/2011).

Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich jedoch viele dieser Gipfel-Angebote als flache Hügel, zu deren Besteigung eine einfache Wanderausrüstung vollkommen ausreicht. Ja, man bekommt bisweilen den Verdacht, dass das Ganze eher einer entspannten Picknick- Tour denn einer schweißtreibenden Kletterei gleicht. Doch was sind die tatsächlichen Herausforderungen dieser Unternehmungen? Worauf lässt man sich dabei ein? Und schließlich: Was ist das Pendant zu dem unvergesslichen Blick vom Gipfel über die weitere Umgebung, der ja eine bleibende Erinnerung sein soll? Man erhebt sich förmlich über den Rest der unten Gebliebenen und meint, danach mehr Weitblick zu haben.

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Aktuelles Magazin

Ausgabe 4/2011

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Sonderausgabe Elektro

Das neue Jahresspecial Elektromobilität.

Beleuchtet alle Aspekte der batteriebetriebenen Mobilität im Unternehmen

Die Themen der Verkehrskongresse scheinen irgendwie schwer verdaulich zu sein. Wie ist es sonst erklärbar, dass für die Präsentation sehr schönes Ambiente und gutes Essen serviert werden? Abends wird in lockerer Runde bei Bier und Wein über das Ende der Mobilität philosophiert und mancher Witz macht dabei die Runde (Meint der Polizist: „Sie sind ein Geisterfahrer, Sie fahren in die falsche Richtung.“ Darauf der Autofahrer: „Was heißt hier falsche Richtung? Sie wissen doch gar nicht, wohin ich will …“). So ist es ja auch ein Anreiz, mal für zwei Tage auszuspannen, sich so richtig von den (Wahn-) Vorstellungen der Experten berieseln zu lassen und vielleicht dazu auch noch einen Kommentar abzugeben. Das hat nun wahrlich nichts mit der der Vorstellung des „Problemaussitzens“ zu tun, obwohl der Vergleich irgendwie naheliegt.

Der Zuspruch dieser Veranstaltungen führt am Ende natürlich zu weiteren Angeboten. Ist der Geschäftsbereich erstmal erfolgreich etabliert, gibt es kein Halten mehr. Lukrative Konferenzen mit hohen Teilnahmegebühren sind die Konsequenz. Und wer nicht mitmacht, kann nicht mitreden. Der Stau auf dem Weg dahin ist Grund genug, sich dann darüber genüsslich aufzuregen.

Nähern wir uns also den Themen der ambitionierten Teilnehmer. An oberster Stelle rangiert dabei natürlich die Zukunft. Wie wird es weitergehen mit unserer mobilen Gesellschaft? Gibt es überhaupt einen Ausweg? Und wenn ja, wie wird (könnte) er aussehen? Außer Acht gelassen wird dabei die Tatsache, dass die Prognosen von, sagen wir, vor zwanzig Jahren so wenig zu tun haben mit der heutigen Realität wie die damalige wirtschaftliche Lage von Griechenland mit der jetzigen. Der ADAC hat dazu mehrere, immer wieder aktualisierte, Studien anfertigen lassen. Die Ergebnisse sind erschreckend (nicht in Bezug auf Griechenland, sondern den Verkehr!).

So wirken diese Voraussagen eher wie Wahrsagerei oder Prophezeiungen. Eigentlich stellt die Reise in die Zukunft jedoch logisch kein Problem dar. Ließe ich mich heute einfrieren, so könnte man mich in hundert Jahren einfach wieder auftauen und ich könnte mir anschauen, was dann dort passiert. Der Klimawandel hätte stattgefunden oder auch nicht, die Staus wären zum Lebenselixier (Vorsicht, das hat was mit Alkohol zu tun!) geworden oder wären gänzlich verschwunden (Stichwort: „Staufreies Hessen 2015“). Jedenfalls könnte man sich Urteil über die heutigen Prognosen erlauben. Kleiner Fehler an der ganzen Geschichte ist, dass man nicht mehr zurückkommen könnte. Denn diese Richtung der Zeitreise ist nicht vorgesehen. Keine Lottozahlen von morgen einscannen und heute damit Millionen einstreichen!

So bleiben wir also im Hier und Jetzt und ergötzen uns zumindest an den Perspektiven, auch wenn wir sie letztendlich nicht umsetzen. Besonderes Augenmerk wird bei den Prognosen der Antriebsenergie gewidmet. Wird die Elektromobilität tatsächlich eine Alternative zu den althergebrachten Verbrennungsantrieben sein? Bei soviel investiertem Geld (europaweit!) wird doch irgendetwas herauskommen. Die Krux hier liegt nicht in den Fahrzeugen, sondern in der Batterie, sorry, im Akku. Wenn uns da nicht noch etwas bahnbrechendes einfällt, bleibt es wieder (wie vor zwanzig Jahren!), bei einem Nischenprodukt (krasser: Rohrkrepierer).

Die Elektrodiskussion hat so einen Beigeschmack von City-Survival. Intermodalität (im Gegensatz zur Multimodalität, bei der verschiedene Verkehrsmittel jeweils aber durchgängig benutzt werden) bekommt hier einen ganz neuen Anstrich. War sie mit unseren heutigen Antriebsformen lediglich in ergebnislosen Förderanträgen von Bedeutung („Bei Stau einfach umsteigen“), so hat sie aufgrund der endlichen Reichweite wegen begrenzter Möglichkeit der Energiespeicherung auf einmal ein ganz andere Bedeutung. „Fahre so weit wie du kommst und steige dann um“ heißt der neue Slogan. Klingt so ein bisschen wie „Rette sich wer kann“. Ob es dazu kommt, können uns die Wahrsager auch nicht sagen, diese Szenarien sind aber durchaus Forschungsgegenstand.

Ein weiteres Schwerpunktthema ist natürlich der öffentliche Verkehr. Werden wir zukünftig alle in Bahn und Bus sitzen, vielleicht auch auf dem (Elektro-) Rad („Pedelec“) unterwegs sein? Der Trend ist ungebrochen. Ist ja auch ganz witzig, wenn man locker in die Pedale tretend Berge (Gipfel!) erklimmt, die bei der Tour de France ein Martyrium bedeuten. Da ist noch viel Luft nach oben, aber bei der heutigen Aufstellung der Verkehrsunternehmen auch nach unten.
So wird denn auch mehr über den Umgang mit Mobilität diskutiert. Müssen wir überhaupt überall dabei sein? Eine gewisse individuelle Mobilitätsverdrossenheit stellt man jedenfalls (aus Sicht der Automobilhersteller) bei der heutigen Jugend fest. Auf meine ersten VWKäfer war ich mächtig stolz und habe ihn auch entsprechend zur Schau gefahren. Bei meinen Kindern (23, 20, 12) liegt die Sache ganz anders. Der Älteste fährt eher widerwillig mit seinem Kleinfahrzeug, meine Tochter hat nicht mal einen Führerschein (ist auch nicht besonders scharf darauf) und unser Jüngster schaut sich eher Fahrzeuge an, die für uns aufgrund beschränkter finanzieller Mittel nicht in Frage kommen. Eine amerikanische Studie kam bei der Frage nach der beliebtesten Automarke in den USA sogar zu dem Ergebnis: keine!

Wie das weitergeht, weiß keiner, und kein Gipfel ist hoch genug, um so weit in die Zukunft schauen zu können. Der Blick bleibt verstellt von vielen kleinen Vorgebirgen, die aufgrund von Erosion irgendwann verschwinden werden, uns heute aber ein Hindernis sind.

So bleibt die Frage, was bei den Veranstaltungen letztendlich herauskommt. Viele dieser Angänge enden ja weit unterhalb des angestrebten Gipfels und begnügen sich mit der Ernsthaftigkeit des (erfolglosen) Versuchs. Ändern wird sich durch die Versammlungen sowieso nichts, nur hat man das Gefühl, dabei gewesen zu sein.

Für die in den Umfragen langsam, aber merklich in der Wählergunst absackenden Grünen würde sich allerdings die Möglichkeit einer ganz neuen Identitätsfindung ergeben. Nachdem der Atomausstieg beschlossen ist und damit ihre „Homebase“ mehr oder weniger verloren gegangen ist, würden sich gerade beim Thema Verkehr ganz neue Perspektiven eröffnen.

Die (jetzige) Bundesregierung hat nach dem Atomausstieg nicht mehr die Traute, auch die unsäglich ineffiziente und überteuerte Photovoltaik, trotz eindringlicher Expertenhinweise, zumindest auf Jahre auszusetzen. Die Gefahr, als „Ausstiegspartei“ zu gelten, ist wohl zu groß, trotz eindeutiger Fakten. Für die Grünen wäre als nächster Profil gebender Schritt der „Verkehrsausstieg“ eine Option. Das Ziel „Zero Emission“ wäre locker erreicht, die Verkehrstoten (heute ca. 4.000 pro Jahr) wären bei Null (Atomindustrie in Deutschland: einer pro Jahr!), man könnte sich die Investitionen in die Infrastruktur sparen, es gäbe riesige Freiflächen zu vergeben, man bräuchte die oben beschriebenen Gipfel nicht mehr.

Es gäbe auch kein Schimpfen mehr über Baustellen und Krafftstoffpreise, keine Staus. Für mich persönlich hätte das nur den kleinen Nachteil, dass man meine Stelle auch nicht mehr bräuchte.

 

 

Professor Michael Schreckenberg,
geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.

Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Online-Verkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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