Skurrile Verkehrswelt

Die Entwicklung des Verkehrs hat viele skurrile Facetten hervorgebracht, haben doch über mehr als ein Jahrhundert unzählige Planer, Techniker, Politiker und vor allem die Fahrer selbst daran mitgewirkt. Heute sehen wir das Ergebnis dieser sysiphus-artigen Bemühungen und staunen zuweilen, was wir da geschaffen haben. Und fragen uns auch, was wir noch schaffen werden. Letzteres soll allerdings der nächsten Kolumne vorbehalten bleiben. Hier wollen wir für den Augenblick in der Gegenwart verharren.

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Dabei ist das Geschehen weltweit anzuschauen, ist Verkehr doch ein globales Phänomen (oder Problem?). Nehmen wir zum Beispiel die Ampel. An sich eine einfache technische Einrichtung zur sicheren und effektiven Abwicklung des Verkehrs an Kreuzungen. Dieses Ziel wird allerdings nicht immer erreicht, wie man aus eigener Erfahrung heraus bestätigen wird. Doch nicht nur das Verhalten der Ampel, sondern vielmehr das Verhalten der Menschen gibt zu Stirnrunzeln Anlass.

Bei uns ist man geneigt, die Gelbphase noch als „dunkelgrün“ wahrzunehmen und sich entsprechend zu verhalten. Doch weltweit variiert der Einfluss der Farben zum Teil erheblich. So konnte ich bei einem Besuch in Seoul, Südkorea, feststellen, dass die einsetzende Rotphase zwar ihre Wirkung zeigt, sich allerdings zum Ende hin deutlich auflockert. So fuhren auf mehrspurigen Straßen die Fahrzeuge schon bei noch sekundenlangem Rotlicht los, sobald der Querverkehr stoppte. Eine für uns abenteuerliche Vorstellung!

Es geht aber noch weiter. Kombiniert man, sagen wir einmal deutsches und koreanisches Verhalten miteinander, bekommt man einen Eindruck vom Verkehr in Istanbul, Türkei, wie er sich mir bei einem Besuch der Verkehrsmanagementzentrale vor Ort erschloss: eine rote Ampel hatte dort eher die Wirkung des blinkenden Gelblichts beziehungsweise der komplett ausgeschalteten Ampel bei uns, wenn kein Programm zur Schaltung eingesetzt wird (aus Kostenspargründen wird dies in den Nachtstunden in einigen Städten ja schon praktiziert). Bei Rot wurde nur etwas vorsichtiger gefahren, aber trotzdem gefahren! In einer Dissertation am Lehrstuhl des Ästhetikprofessors Bazon Brock an der Universität Wuppertal wurde die Ampel folgerichtig einfach als „Lichtinstallation“ behandelt.

Denkt man sich die Ampeln einmal weg, so kommt man zwangsläufig zum Kreisverkehr, der bei uns eine regelrechte Renaissance erlebt. Warum dieser bei uns über Jahrzehnte nur eine untergeordnete Rolle spielte, lässt sich nur vermuten. Sollte dies vielleicht (mit) daran liegen, dass Kreisverkehre kein einträgliches Geschäft mit Installation und Betrieb der Ampeln erlaubt haben (und erlauben)

Im europäischen Ausland genießt der Kreisverkehr von je her eine wesentlich bedeutendere Rolle. Es gibt dort daher eine wesentlich längere Tradition und auch entsprechend gewagter anmutende Auswüchse. Für Deutsche, denen man bei Neuinstallationen lediglich das Zurechtkommen mit einspurigen Kreiseln zutraut, ist der Verkehr um den Arc de Triomphe mit seinen (ca.) acht Spuren eine unlösbare Aufgabe, weniger das Hereinfahren als vielmehr das wieder Herauskommen.

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Gleiches gilt wohl für die skurrilste Ausformung dieser Weiterentwicklungen in England, den Magic Roundabout, von dem es vier Exemplare geben soll (einen auf jeden Fall bei Southampton). Man muss wahrscheinlich wirklich magische Fähigkeiten haben, sich dieser Herausforderung erfolgreich zu stellen. Ist ein normaler Kreisverkehr in England für den Kontinentaleuropäer aufgrund des Linksverkehrs und des damit verbundenen umgekehrten Drehsinns (im Uhrzeigersinn) sowieso schon ein Problem, so besticht der Magic Roundabout durch einen zentralen Kreisverkehr (gegen den Uhrzeigersinn) mit fünf (!) Unterkreisverkehren (im Uhrzeigersinn). Beim Durchfahren hat man es daher mindestens mit drei Kreisverkehren mit jeweils unterschiedlichem Drehsinn zu tun. Selbst erfahrene Nutzer dieser Einrichtung konnten mir ihre Vorgehensweise beim Befahren nicht genau erklären. Vielleicht ist dort einspezielles englisches Gen für notwendig, das uns (noch) fehlt …

Nach Beseitigung der Ampelanlagen könnte man auch auf die Idee kommen, den Rest der Verkehrschilder gleich mit zu entfernen. Auch dies mag absurd anmuten, wird aber bereits in Pilotprojekten erprobt. So zum Beispiel in der niederländischen Stadt Drachten und neuerdings auch im niedersächsischen Bohmte.

„Shared Space“ nennt man das EU-Projekt, hier würde man eher „schilderlose Stadt“ sagen. Bei Tempolimit 30 km/h (siehe Kolumne aus Flottenmanagement 1/2008) gibt es nur noch die Regeln „Rechts fahren“ und „Rechts vor Links“. Alle Verkehrsteilnehmer nutzen die gleiche Fläche, Kooperation untereinander ist das Ziel. Auswertungen zufolge sollen die Unfallzahlen dadurch drastisch gesenkt worden sein. Allerdings ist der Einsatz dieses Konzeptes in größeren Städten schon deshalb fragwürdig, weil das Vorankommen von Rettungsfahrzeugen nicht mehr in der gewünschten Geschwindigkeit mögsein dürfte, sollen sie doch in acht Minuten an jedem Einsatzort ankommen können.

Die Verkehrsschilder werden uns also noch eine ganze Weile erhalten bleiben, obwohl Bundesverkehrsminister Tiefensee die Abschaffung von 22 Schildern ab 2009 anstrebt. Ein besonderes Kompliment für den Autofahrer ist darin zu sehen, dass man ihm tatsächlich zutraut, selbst zu bemerken, ob es schneit oder glatt ist und deshalb möchte man auf das entsprechende Verkehrszeichen ebenfalls verzichten.

Angesichts der wachsenden Verbreitung von Navigationsgeräten und der Hörigkeit gegenüber ihren Anweisungen ist der Wegfall der Warnung vor einem Ufer jedoch als diskussionswürdig anzusehen, wollte mein Navigationsgerät mich doch auf der Fahrt in den Sommerurlaub an die Nordsee direkt auf einen Deichkamm lotsen … Doch auch bei den verbleibenden Schildern zeigen sich wundersame Phänomene. Ein von rechts kommendes Reh auf einem rechts stehenden Verkehrsschild führt einer ADAC-Studie zufolge bei 80% der Autofahrer zu der irrigen Annahme, ein Reh würde tatsächlich nur von rechts kommen können. Auf den Autobahnen hat man die Schilder daher „gedoppelt“. Links ein Reh von links und rechts eines von rechts. Wenn da mal nicht ein Zusammenstoß droht! Manchmal laufen auch beide in die gleiche Richtung (da war das entgegengestzte Schild wohl gerade nicht zur Hand).

Nur am Rande sei zu erwähnen, dass in England natürlich alles andersherum ist und auch die Rehe lieber von links kommen, ebenso wie der Steinschlag (der sich im Übrigen auch auf der Abschussliste befindet). In einer großen deutschen Sonntagszeitung wurde nach bekannt werden der Pläne gewitzelt, man müsse weitere neue Schilder aufstellen, die darauf hinweisen, dass in 100 Metern ein überflüssiges Schild am Fahrbahnrand steht, um die Autofahrer zu sensibilisieren. Nach unseren Untersuchungen an Pendlerhirnen (siehe Kolumne Flottenmanagement 2/2008) kein abwegiger Gedanke.

Bei einem Blick in den Schilderwald weltweit findet man vieles, was uns am Straßenrand erspart geblieben ist (und hoffentlich auch bleibt). Als makaberstes Exemplar ist da wohl ein (offizielles) Warnschild aus Kalifornien (W54-Special, „Freeway Pedestrian“) zu nennen, das vor flüchtenden illegalen Einwanderern an der mexikanischen Grenze warnt, die kopflos die Straße überqueren. Dargestellt ist eine Familie mit Kind, von links kommend. Da in Amerika Rechtsverkehr gilt, soll dies wohl andeuten dass die Flüchtenden auf der zweiten Straßenhälfte mehr Risiko eingehen.

Ist man einmal bei den Menschen im Verkehr angelangt, kommt man nicht umhin, sich Männer und Frauen getrennt anzuschauen. Was gibt es nicht alles für Mythen und Legenden um die unterschiedlichen Verhaltensweisen und Einschätzungen der beiden Geschlechter im Straßenverkehr. Ob Jäger oder Sammler, ob Einparken vorwärts oder rückwärts, ob Imponiergehabe oder einfach von A nach B gelangen zu wollen, ob Kartenlesen oder Passanten fragen (bei Navis heute nicht mehr so spannend), ob Selbsteinschätzung oder die Meinung über das andere Geschlecht, überall werden charakteristische Unterschiede ausgemacht.

Beruhigend ist jedenfalls festzustellen, dass die Verhaltensweisen sich anscheinend annähern, teilweise zumindest. Man sollte sich auch vor Augen halten, dass der erste Autofahrer in der Tat eine Frau war: Bertha Benz nahm sich im August 1888 einfach den (gerade entwickelten) „Patentmotorwagen“, setzte sich ans Steuer und fuhr immerhin die 80 Kilometer zwischen Mannheim und Pforzheim. Sie wurde damit zum Auslöser des Automobilbooms, der bis heute anhält. Allerdings übernahmen schnell die Männer das Steuer, und lassen es bis heute nicht los.

Skurrile Argumente aus der Evolutionsgeschichte werden häufig bemüht: die Frauen als Sammler sollen sich demzufolge eher an (ortsfesten) Merkmalen orientieren („da hinten gibt es Beeren“), während die Männer als Jäger sich eher auf dynamische Routen verlassen („da hinten laufen Bären“). Ob das heute noch so ist, sollte jeder für sich selbst feststellen.

Bedenklich ist nur, dass gerade bei jungen Männern unterhalb von 30 das Imponiergehabe immer noch eine bedeutende Rolle spielt und Aggressivität bei jenen mit sonst eher bravem Lebenshintergrund auftritt. Frauen wollen dagegen nach Umfragen einfach nur sicher ankommen. Und fühlen sich am sichersten, wenn sie nicht hinters Steuer müssen, sondern entspannt mitfahren können. Jetzt könnte man sich fragen, wie eine Frau bei einem imponiersüchtigen Fahrer entspannt auf dem Beifahrersitz Platz nehmen kann.

Doch auch hier zeigen Studien, dass Männer mit einer Frau auf dem Beifahrersitz „besser“ und sicherer fahren als ohne. Anscheinend bezieht sich das Ergebnis der Studie in dieser Hinsicht wohl nur auf Männer unter 30. Ich (52) neige mit meiner Frau als Beifahrerin nicht zu Imponiergehabe (wäre nach 20 Ehejahren wohl auch ein wenig spät!), als beruhigendes Element kann ich sie bei ständiger Kritik an meinem Fahrstil aber irgendwie nicht empfinden. Trotzdem weiterhin gute Fahrt!

 

Prof. Michael Schreckenberg, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt.

Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.

Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Online-Verkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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