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Denn auch schon 1910 wurde in der „Verordnung über den Verkehr von Kraftfahrzeugen“ unter der Überschrift „Pflichten des (Fahrzeug-) Führers“ in §18 festgehalten, dass die „Fahrgeschwindigkeit jederzeit so einzurichten ist, dass Unfälle und Verkehrsstörungen vermieden werden …“. Heute bleibt davon immerhin noch übrig, dass man den „Verkehrsfluss nicht behindern soll“.

Dieser letzte Zusatz bekommt besondere Bedeutung, wenn wir an die bevorstehende Fußball- WM denken. Bei der kann es nach grandiosen Siegen durchaus noch zu dem einen oder anderen Autokorso auf unseren Straßen kommen. Dabei wird dann höchstwahrscheinlich die Grenze zur Verkehrsstörung erreicht (mal abgesehen von der Überschreitung der höchstzulässigen Zahl an Passagieren in dem jeweiligen Fahrzeug, ein interessantes Thema für einen späteren Beitrag). Üblicherweise lässt die Polizei in den meisten Fällen aber, falls nicht akute Gefahr besteht, einiges mehr zu als offiziell erlaubt. Man will ja auch abseits des Spielfeldes kein Spielverderber sein, zumal diese Methode des (harmlosen) Berauschens eher Südländern zugeschrieben wird.

Das Thema „Mindestgeschwindigkeit“ hat auch noch einen anderen, oft fehlinterpretierten Aspekt. So muss man auf Autobahnen selbst dann nicht, wenn der Verkehr es zulässt, mindestens 60 km/h fahren. Das Gefährt der Benutzer derselben muss lediglich durch die „Bauart bestimmt“ mehr als 60 km/h schaffen können. Wegen schlechter Sicht oder viel Ladung kann man ruhig langsamer fahren, nicht aber um andere zu behindern. Das ist manchmal schwer voneinander zu trennen …

Würden die zitierten Paragrafen also akkurat befolgt, wären im Prinzip eigentlich keine Geschwindigkeitsbegrenzungen vonnöten. Man muss sich aber vor Augen halten, dass trotzdem 1910 gezielt eine Höchstgeschwindigkeit von 15 km/h innerhalb „geschlossener Ortsteile“ vorgeschrieben wurde, wie auch immer kontrolliert. Der ADAC schrieb 1914 in seinem Jahrbuch zum Thema „Fahranstand“, „dass unbeherrschte Fahrer nur ihre klägliche Unbildung und Kulturwidrigkeit bewiesen“, ja man forderte sogar, dass diese von „uns Autlern unbarmherzig ausgemerzt werden“. Man vermutete allerdings nur ein Dutzend dieser Art in ganz Deutschland, die der guten Sache „unermesslichen Schaden“ antun (na ja, wer den Schaden hat …). Man dachte damals jedenfalls in anderen Dimensionen.

Die verschlungene Geschichte der Höchstgeschwindigkeit innerorts (außerorts, inklusive Autobahnen) spiegelt anschaulich das Auf und Ab der Begrenzungswerte wider. 1939 wurde erst auf 60 km/h (100 km/h) erhöht und dann im gleichen Jahr auf 40 km/h (80 km/h) gesenkt (bedingt durch den Kriegsbeginn). Erst 1952 wurde dann allerdings die komplette Aufhebung aller Geschwindigkeitsbeschränkungen für Personenkraftfahrzeuge beschlossen („Entregelung“)! Die Begründung liest sich recht zynisch, denn es gelte „im Interesse der Flüssigkeit des Verkehrs als auch wegen seiner Sicherheit (!) von Höchstbegrenzungen … abzusehen“. Festgeschrieben steht dies im „Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs“. Man verwies mehr oder weniger auf die oben beschriebene ständige Beherrschung des Fahrzeugs.

Die ganze Geschichte endete natürlich in einem Desaster in Form von tödlichen Verkehrsunfällen. So starben 1956 über 7.600 Personen innerorts, wo man dann folgerichtig 1957 Tempo 50 einführte. Erstaunlicherweise blieb der Außerortsverkehr davon unberührt. Durch die technische Entwicklung mit immer höheren Geschwindigkeiten begünstigt, entwickelten sich dort die Zustände dramatisch. 1970 näherte man sich ganz allmählich der als Schallmauer empfundenen Zahl von 20.000 Verkehrstoten, aus heutiger Sicht (2013 waren es 3.340) fast unvorstellbar. So gab es dann unter Verkehrsminister Georg Leber einen neuen Vorstoß, 1972 führte er (testweise) Tempo 100 auf Landstraßen ein, danach wurde wie nie zuvor oder danach um die Autobahnen, das heißt deren Tempolimit, gerungen.

Genug der zwar interessanten, aber für den alltäglichen Gebrauch untauglichen Historie. Heute sehen wir das alles ganz gelassen, ärgern uns allenfalls über noch immer anscheinend unnötige Einschränkungen. Wie diese aber genau aussehen, ist vielen Verkehrsteilnehmern selbst nach langjähriger Praxis nicht ganz klar. Die Verkehrszeichen kennt man, na klar, aber was bedeuten sie genau? So werden viele Tempolimits erlassen, aber wann gelten sie als aufgehoben?

Früher gab es mal eine Art „Zwei-Kilometer-Regel“. Was nach zwei Kilometern nicht wiederholt wurde, konnte der Fahrer vergessen (haben). Davon ist man aber vor einiger Zeit abgegangen. Man sieht das noch am Abstand der Schilderbrücken, der fast immer knapp unter zwei Kilometer bemessen ist.

Viele der Begrenzungen sind an Sondersituationen wie Baustellen, Lärmschutz oder Nässe gekoppelt, nicht selten wird dies dann in der Folge nicht aufgehoben. Ab wo kann man dann wieder Gas geben, ohne den roten Blitz des „Ertapptworden- Seins“ einschlagen zu sehen? Besonders kritisch ist dies bei Verkehrsbeeinflussungsanlagen, die ja im Prinzip variabel geschaltet werden können.

Zuerst muss aber geklärt werden, warum man überhaupt zu schnell fahren sollte. Die Erläuterungen der StVO sehen als einzigen Grund die Zeitersparnis, nicht aber die „emotional bestimmte Freude“, von der man sich leicht verleiten lässt, bewusst von dem (vermeintlich) Vorgeschriebenen abzuweichen.

Der wesentliche Grundsatz ist, dass Geschwindigkeitsbegrenzungen so lange gelten, bis sie wieder aufgehoben werden. Oder aber ein Zusatzzeichen schränkt die Reichweite ein, also beispielsweise eine Längenangabe wie „300 Meter“. Dann ist die Sache klar. Wird erkennbar wegen einer Baustelle abgesenkt und nicht aufgehoben, gilt das Ende der Baustelle auch als Ende der Begrenzung ohne besonderen Hinweis.

Kreuzungen und Autobahnanschlussstellen gelten nicht automatisch als Aufhebung. Auch wenn die Hinzufahrenden nicht von der Begrenzung wissen können. Klingt komisch, aber ist so. So bedeuten ausgeschaltete Schilderbrücken keine Aufhebung, auch nicht nach Auffahrten.

Anlass zu Diskussionen gibt in jedem Fall die Einschränkung bei Nässe. Muss ich dann aussteigen und den Wasserstand messen? Muss es regnen? Beide Male: Nein! Die Straße muss „durchgängig benetzt sein“. Das erkennt man am Aufspritzen von Gischt (keine Krankheit!) bei den Vorausfahrenden. Regnen muss es dabei nicht.

Die Schrittgeschwindigkeit, vorgeschrieben beispielsweise für verkehrsberuhigte Bereiche, ist ein ganz heikler Punkt. Auf jeden Fall heißt das „deutlich weniger als 20 km/h“ nach Gerichtsentscheid. Ob das nun 7 oder 4 bis 10 km/h bedeutet, bleibt Auslegungssache. Das gilt übrigens auch, wenn ein Tachometer diese niedrigen Geschwindigkeiten gar nicht anzeigen kann. Das gleiche Problem haben Fahrradfahrer natürlich auch.

Letztendlich ist das mit den Tempolimits aber so eine Sache. Denn fast 15-mal mehr Unfälle mit allen Folgen passieren unterhalb der erlaubten Höchstgeschwindigkeit als darüber. Angesichts dieser Tatsache ist der Wirkungsbereich eines „Blitzmarathons“ als eher eingeschränkt zu sehen.

Auf dem diesjährigen Verkehrsgerichtstag in Goslar hatte ich die Ehre, mit dem Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, in dem Format „Nachschlag“ am letzten Tag über Sinn und Unsinn von Blitzmarathons zu diskutieren. Sehr schnell ist dann vonseiten des Publikums von Abzocke und Geldschneiderei die Rede. Die berüchtigte Blitzanlage an der A2 am Bielefelder Berg gilt als Synonym für „erfolgreiche“ Geschwindigkeitsüberwachung. In fast fünf Jahren wurden dort über 35 Millionen Euro „eingeblitzt“. Es mussten sogar eigens neue Mitarbeiter zur Bewältigung der Knollenflut eingestellt werden.

Wie hartnäckig an den Einnahmen durch Blitzgewitter gehangen wird, sieht man derzeit auf der viel gescholtenen Autobahnbrücke der A1 bei Leverkusen über den Rhein. Wer aufmerksam den Baustellenbereich passiert, wird unschwer die Häufung der Blitzanlagen bemerken. Bemerkenswert ist zudem, dass sich die Städte Köln und Leverkusen die Einnahmen teilen: In Richtung Westen kassiert Leverkusen, in Richtung Osten Köln. Ein interessanter Wettstreit um die höheren Einnahmen beginnt. Es geht ja um einen guten Zweck, denn die Vibrationen durch den Verkehr gefährden die Sanierungsmaßnahmen unterhalb der Fahrbahn.

So kam beim „Nachschlag“ in Goslar auch der Vorschlag auf den Tisch, die Einnahmen aus Geschwindigkeitsüberschreitungen karitativen Zwecken zukommen zu lassen. Damit wäre das Thema „Abzocke“ jedenfalls vom Tisch. Ja, man würde aus rein humanitären Gründen heraus gerne mal ein bisschen schneller fahren und geblitzt werden, halt für einen guten Zweck. Das eröffnet dem Spenden ganz neue Dimensionen. Wer nicht zu schnell fährt, ist demzufolge ein sozialer Geizkragen.

Bis es so weit kommt, ist wahrscheinlich aber noch ein wenig Zeit. Wir schauen weiterhin gebannt auf den Tachometer und versuchen, zumindest im Großen und Ganzen innerhalb der gesteckten Grenzen zu bleiben. Das Gefühl für Geschwindigkeiten hat der Mensch aus der Evolution heraus nicht mitbekommen, und in 125 Jahren Automobilität konnte man das nicht nachholen. So versucht man nun mit unkonventionellen Methoden, dem Geschwindigkeitswahn auf die Spur zu kommen. In einem bahnbrechenden Projekt im Märkischen Kreis (Kennzeichen MK) holen studentische Polizisten nicht die Schnellfahrer aus dem Verkehr, sondern diejenigen, die nicht zu schnell gefahren sind. Diese, ganz verunsichert durch die Maßnahme, werden mit der peinlichen Frage konfrontiert, warum sie denn nicht schneller gefahren sind als erlaubt. Zumindest haben einige zugegeben, vom Gegenverkehr per Lichthupe gewarnt worden zu sein …

Zudem gibt es heute, nicht nur zur Warnung vor Radaranlagen, viele kleine Helferlein an Bord, „Fahrerassistenzsysteme“ genannt. Diese halten Geschwindigkeiten und Abstände ein, kontrollieren bisweilen den Zustand der Augen, oder melden verdächtige Objekte im toten Winkel. Doch wer hat all diese Zaubergeister gerufen? Wie bei Goethes „Faust“ wird man sie nun nicht mehr los. Der eine frohlockt, der andere flucht. Am Ende werden auch noch Fahrprofile aufgenommen und damit Versicherungsprämien festgelegt.

Die Geschwindigkeit legt jeder Autofahrer zu jeder Zeit selbst fest. Die Orientierung an den Vorgaben kann höchst trügerisch sein, man selbst muss den Überblick behalten. Und man sollte niemals die Beherrschung verlieren, weder über das Fahrzeug noch über sich selbst!

 

Autor

Professor Dr. Michael Schreckenberg, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.

Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Online-Verkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.