Nur getäuscht
In unserer heutigen Zeit sind Täuschungen präsenter als jemals zuvor. Es war eben auch noch nie so einfach, Dinge zu verdrehen, zu verstellen oder einfach zu verdecken. Man ist geneigt, den pseudophilosophischen Aphorismus: „Das Wesen der Dinge ist ihr Schein“ für omnipräsent bestätigt zu sehen. Denn kaum etwas ist noch so, wie es „wirklich“ ist.

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Der Ausspruch ist einem Film entlehnt („Himmel über Berlin“) und in einem speziell dafür von Peter Handke getexteten Lied enthalten. Dass die Sache mit dem Wesen und dem Schein nicht ganz unproblematisch ist, war allerdings schon Platon vor mehr als 2000 Jahren in den Sinn gekommen. Bei ihm ist die Sache relativ klar gegliedert. Alles was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen ist vergänglich und Teil der körperlichen Welt. Über dieser Sinneswelt erhebt sich die Ideenwelt, die unabhängig davon ewig und unveränderlich existiert. Für ihn wäre unsere Zeit wahrscheinlich ein Martyrium, denn bei ihm ist gerade das Wesen beständig und statisch und nicht von generativen KI’s abhängig. Der bekannte Philosoph Martin Heidegger hat zumindest die Statik des zugrunde liegenden Wesens aufgegeben und lässt dynamische Prozesse zu. Aber auch er hätte wahrscheinlich Probleme mit der Geschwindigkeit der Wesensveränderungen.
Philosophische Betrachtungen bringen einen im derzeitigen Umfeld nicht wirklich weiter, sind die Anforderungen an unsere Wachsamkeit doch täglich und stetig gewachsen. Nicht nur das Daten ständig abgegriffen werden (PayPal lässt grüßen!), wobei wir nicht direkt aktiv beteiligt sind, so leisten wir andererseits an vielen Stellen einer (verdeckt) geplanten Täuschung Vorschub oder fallen auf sie herein. Die Konstrukte sind mittlerweile so perfide, dass es tatsächlich schwer fällt, direkt die Fallen zu erkennen. Seien es Anrufe, Emails, WhatsApp oder SMS, mittlerweile ist alles perfekt gemacht und (fast) glaubwürdig. Selbst Amazon gerät da jüngst ins Kreuzfeuer, verbirgt sich bei Filmen hinter dem Button „Kaufen“ doch nur eine Lizenz.
Aber wir alle beteiligen uns doch auch gerne am „Vortäuschen“. Schon Gottfried Keller beschrieb in seiner Novelle „Kleider machen Leute“, wie ein Schneidergeselle nur aufgrund seiner schicken Kleidung zum Grafen avanciert. Und die Geschichte hat tatsächlich ein Happyend mit Wohlstand, was durchaus nicht immer der Fall sein muss. Heute würde die Geschichte eher „Autos machen Leute“ heißen. Dabei stelle man sich jemanden vor, der in einer Einzimmerwohnung aus dem Koffer lebt mangels Geld für einen Schrank, vor der Türe aber in seine Luxuslimousine steigt.
Der erwachsene Mensch neigt dazu, gewisse Anzeichen gedanklich fortzusetzen, ohne diesen Prozess zu hinterfragen. Lässt man beispielsweise hinter einer Pappe auf gegenüber liegenden Seiten Stockenden herausragen, so meinen die meisten, es handele sich um einen einzigen durchgehenden Stab. Oder wirft man mehrere Male einen Ball in die Luft und fängt ihn wieder auf, aber beim letzten Mal macht man nur die Armbewegung ohne Ballwurf, so scheint der Ball in der Luft verschwunden zu sein. Dafür gibt es aber jeweils keine echten Anzeichen. Sehr viele Zaubertricks basieren auf dieser Art der „Vervollständigung“, die im normalen Alltag ja auch hilft.
Eine bestimmte Art der bewussten Täuschung ist die Lüge. Dabei handelt es um eine sprachliche Aussage, die nicht der Wahrheit entspricht. Gründe dafür gibt es viele, ob als Notlüge, um eine Situation zu entschärfen, oder als gezielte Lüge, um andere zu manipulieren. Viel haben sich Psychologen mit dem Thema befasst, um beim Menschen die lügenbedingt wachsende Nase des Pinocchio zu finden. Lügendetektoren, die aus Messung von Atmung, Blutdruck und Schweißausbruch (Polygraphie) physiologische Reaktionen und damit mögliches Lüge ableiten wollen, sind bis heute umstritten und ihr Einsatz bei uns vor Gericht nicht erlaubt. Man misst Expertenaussagen zufolge dabei eher Angst, und zwar einerseits davor, überführt zu werden, andererseits aber zu Unrecht für schuldig gehalten zu werden. Ob Künstliche Intelligenz hier quasi als Blackbox-Verfahren weiterhelfen könnte, wird als kritisch angesehen. Trotz jahrzehntelanger Forschung fehlt halt Pinocchios Nase. Zumindest hat der Schöpfer von Pinocchio den kleinen Ort Collodi in der Toskana weltberühmt gemacht, hat er sich doch Carlo Collodi (eigentlich Lorenzini) genannt.

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Viele Gerüchte ranken sich um die statistischen Verteilungen von Lügen. Junge Leute mehr als alte, 200 am Tag oder eher nur zwei, Männer mehr oder weniger als Frauen? Ein weites Feld, konkrete Aussagen sind schwierig. Junge Menschen haben mehr Gelegenheit zu lügen als alte, nimmt man an. Zwei Lügen am Tag sind wohl realistisch und zwischen den Geschlechtern gibt es kaum Unterschiede. Allerdings wird in Japan aus Höflichkeit mehr geflunkert als im Westen.
Dass vor Gericht nicht nur durch Lügen falsche Aussagen zu Buch schlagen, sondern aus voller Überzeugung in Hinblick auf die Richtigkeit ist eine bekannte Tatsache. Die angesehene Rechtspsychologin Julia Shaw ist der Überzeugung, dass keine Erinnerung der Wahrheit entspricht, sondern eher einer Wikipedia-Seite, die man selbst oder auch andere verändern können. Für einen selbst mag das ärgerlich sein, vor Gericht kann das aber fatale Folgen haben. Falsche Erinnerungen von Zeugen sind oftmals maßgeblich für eine Verurteilung Unschuldiger verantwortlich. Es geht aber noch schlimmer. In dem amerikanischen „Innocent Project“ zur Unterstützung unschuldig Verurteilter hatte jeder vierte sogar ein Geständnis für eine nicht begangene Tat abgelegt.
An die Grenze zwischen Illusion und Realität gelangt man fast jeden Morgen selbst, denn oft können Träume realistisch genug sein, um sie für bare Münze zu halten. Diese Art der „Selbsttäuschung“ stellt bis heute ein letztendlich ungelöstes Problem dar. Und selbst die Frage, ob Träumen eine eigene Funktion hat, ist schwierig zu beantworten. Theorien gibt es zur Genüge. Da können alte und neue Erfahrungen gemischt und abgespeichert, Vorbereitungen für die Zukunft getroffen oder einfach Ängste verarbeitet werden. Klar ist nur, jeder träumt jede Nacht, man kann sich eben nur nicht immer daran erinnern. Manchmal ist man dann auch traurig, dass es eben „Nur geträumt“ war. Nena lässt grüßen! Spannend ist das Streamen des Nachts jedenfalls allemal. Und das wird durch keine Paywall oder Kaufen-Button geschützt!
Spannend werden Täuschungen auch dann, wenn sie im großen Stil stattfinden. Gerade in unserer vernetzten Welt mit Massenmedien ist die Manipulation von Meinungen, Einstellungen und vor allem Verhaltensweisen geradezu kinderleicht. Ohne Propaganda kann heute (fast) keine Wahl mehr gewonnen werden. Drückt man es vorsichtig aus, so steht dabei nicht primär die Wahrheit im Vordergrund, sondern das Ausrichten der Denkweisen in Bezug auf das Erreichen eines bestimmten Zieles. Die Logik bleibt dabei gerne mal auf der Strecke, hier wird dann mehr „gefühlt“. Verschwörungstheoretiker mischen da gehörig mit. Manchmal hat man da im Wachzustand das Gefühl zu träumen.
An die Substanz geht Täuschung mit dem Ziel kriminellen Betrugs. In den Medien gerade aktiv unterwegs ist René Benko mit ein paar versenkten Milliärdchen durch seine Signa Holding. Hier entstehen wie in vergleichbaren Fällen (Wirecard, Dieselskandal) erhebliche Kollateralschäden, beispielsweise bei Anlegern, denn irgendwer muss für die „nirvanisierten“ Unsummen am Ende blechen. Aber da die Verfahren sich über Jahre und sogar Jahrzehnte hinziehen, ist nicht mit schnellen Ergebnissen oder Urteilen zurechnen.
Bei Benko fragt man sich, warum er nicht auch in Moskau als freier Millionär weilt. So wie angeblich Jan Marsalek (ehedem Chef der „Kabelkarte“) oder auch Karl-Erivan Haub von der Tengelmann Unternehmensgruppe. Letzterer ist gerüchteweise durch einen Zaubertrick von einer Skipiste in Zermatt nach Moskau gebeamt worden. Beiden wurden Kontakte zum russischen Geheimdienst nachgesagt. Hier verlaufen sich die Spuren im Nebel der Vergangenheit, die ja jederzeit neu geschrieben werden kann. Aber vielleicht hat Benko ja noch ein Ass im vornehm gekleideten Ärmel ...
Man wundert sich ja alle Tage auch wieder, dass der Enkeltrick bei Oma und Opa so gut zieht. Und dank moderner KI-Methoden („Deep Fake“) muss nicht mal ein Mensch von Fleisch und Blut zum Hörer greifen. Die Digital-Stimmen können jetzt sogar auch richtig emotional rüberkommen. Die immer in schwieriger Situation dringend viel Geld brauchenden Enkel lassen die Großeltern schließlich alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord werfen und teuer Erspartes, sogar häufig einfach an der Tür, herausgeben. Da fragt man sich, wieso die KI nicht auch bei Oma und Opa vorinstalliert ist und sich einfach nur noch die Fakes gegeneinander austricksen. Kommt bestimmt noch.
Die vorgetäuschte digitale Parallelwelt ist in der Tat eine große Gefahr. Und wer einmal dort (zu) tief eingetaucht ist, findet kaum mehr heraus. Die KI-Entwicklung sollte man dabei genau im Auge behalten. Nicht deshalb, weil sie möglicherweise ein eigenes Bewusstsein entwickelt. Nein, weil viele meinen, sie hätte (schon) eins! Da verschwindet dann schnell die Grenze zwischen parallel und orthogonal.
Im Automobilsektor ist jede Menge Raum für täuschend echte Erweiterungen. Ja hier gibt es sogar „akustische“ Täuschmanöver, um durch übertriebene Lautstärke oder einfach elektronisch nachgeahmten Sound nicht existierende Eigenschaften vorzugaukeln. Bei Elektrofahrzeugen mag das ja Sinn machen, um sie überhaupt akustisch wahrzunehmen. Gerade für Sehbehinderte ist das eine sinnvolle Sicherheits-Maßnahme. In vielen Fällen liegt hier aber der Poser-Gedanke zugrunde, ob auf zwei oder vier Rädern.
Es sind sogar bekannte Hollywood-Komponisten wie Hans Zimmer damit befasst, den Soundtrack der Zukunft zu entwerfen und das Auto als eine Art Musikinstrument zu betrachten. Schöne neue Welt kann man dazu nur sagen. Und der Konzertsaal im Innenraum dafür ist am Ende eher klein. Denn was hat man von vorbeirauschenden Musikinstrumenten? Da müssten dann ganze Flotten vorbeifahren, dass für den Zuhörer am Straßenrand ein Musikstück draus wird.
So etwas Ähnliches straßenseitig hat es schon mehrfach gegeben. Die erste „musikalische Straße“ entstand 2007 in Japan. Bei einer gewissen Geschwindigkeit erzeugen die Reifen beim Überfahren von Rillen Melodien. Solch eine singende Straße wurde im April 2018 auch bei dem friesischen Ort Jelsum in den Niederlanden installiert. Bei dem Tempolimit von 60 km/h ertönten die ersten Strophen der friesischen Hymne. Nach einer Woche wurde die 80.000 Euro teure „witzige Aktion“ aufgrund von vehementen Anwohner-Protesten wieder eigestellt. Sie konnten einfach nicht mehr schlafen!
Auch optische Täuschungen tauchen in Form von gefälschten Führerscheinen auf. Eine aktuelle Recherche der Süddeutschen Zeitung ergab, wie einfach man (für Lkw) an solche Papiere aus Rumänien oder Usbekistan, aber auch Deutschland gelangen kann. Und die Polizei ist häufig gar nicht mit den zur Prüfung notwendigen Geräten unterwegs, ja sie führt aufgrund von Personalknappheit sowieso weniger Kontrollen durch. In dem Zusammenhang ist es sehr verwunderlich, wenn auf erneute Initiative (die erste blieb nach dem Abschalten der Ampel auf der Strecke) des Landes Hessen im Bundesrat ein „Gesetzentwurf zur Begrenzung der Halterpflichten bei der Überprüfung von Führerscheinen“ (betreffend § 21 Straßenverkehrsgesetz) eingebracht wird, um die Bürokratie zu entlasten. Im Klartext: nur noch eine Kontrolle bei Übergabe eines Fahrzeugs, aber keine verpflichtenden weiteren, außer bei „konkreten Anlässen“. Die gelebte Praxis momentan sind regelmäßige halbjährliche Kontrollen. Da muss man dann ja nicht einmal mehr täuschen ...
Aber eines der wohl krassesten Beispiele für Fehlwahrnehmungen sind die Shepard-Tische (@ Wikipedia). Man kann einfach nicht glauben, dass die Tischplatten identische Größe und Form haben. Aber man kann es einfach nachprüfen. Irgendwie trügt der Schein dann wohl doch. Wie man sich täuschen kann.
AUTOR
PROFESSOR DR. MICHAEL SCHRECKENBERG, geboren 1956 in Düsseldorf, studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln, an der er 1985 in Statistischer Physik promovierte. 1994 wechselte er an die Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 die erste deutsche Professur für Physik von Transport und Verkehr erhielt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er an der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders im Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Seine aktuellen Aktivitäten umfassen Onlineverkehrsprognosen für das Autobahnnetzwerk von Nordrhein-Westfalen, die Reaktion von Autofahrern auf Verkehrsinformationen und die Analyse von Menschenmengen bei Evakuierungen.

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